Anmerkungen zu Schriften zur Erkenntnistheorie

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Jemand zu "verstehen" heißt im tieferenen Sinne nicht nur zu verstehen was er meint,
sondern auch zu verstehen, warum er gerade diese Meinung vertritt.
Dann versteht man ihn wirklich.

Helmut Hille

Karl R. Popper/Alles Leben ist Problemlösen
1997 Serie Piper München

I./I. Wissenschaftslehre in entwicklungstheoretischer und logischer Sicht
Seite 15 - 45

Bei diesem Kapitel handelt es sich um den Abdruck eines Rundfunkvortrags von 1972. Es enthält die bekannte These, daß auch Wissenschaftler nach der Methode von Versuch und Irrtum arbeiten. Einstein und Newton wären auch nicht anders als eine Amöbe vorgegangen, die durch Probierbewegungen ihr Terrain sondiert. Poppers Gleichklang von Fauna, Flora und Forschung, die in der These mündet, daß die Wissenschaft ein biologisches Phänomen ist, läßt auf den ersten Blick eine Nähe zu meiner "biologisch" genannten Erkenntnistheorie vermuten. Tatsächlich sage ich ja ebenfalls, daß die physiologische und kognitive Strategie die gleiche ist, bei mir allerdings die der Aneignung, ggf. aber auch mittels Versuch und Irrtum. Aber meine Lehre ist nicht biologistisch: trotz der Gleichheit der Strategie betone ich ausdrücklich die eigene Kompetenz und die eigenen, nämlich rationalen Methoden der Kognition und ich habe auch etliche davon ausführlich vorgestellt. Hier endet die Nähe zu Poppers These. Gleichsinnig heißt es in Irrgangs Lehrbuch der Evolutionären Erkenntnistheorie im Kapitel 8.3 über die Neurophilosophie (s. Anhang zu Text (III/3): "Zwar spielen in der Evolution des Wissens zufälliger Erkenntnisfortschritt und Ausmerzung des Irrtums ... eine bedeutende Rolle, aber auch Methodenreflexion, Analyse, Deduktion und Induktion als planmäßig vollzogene Heuristik. Letztere aber findet sich so wohl nicht in der Natur." Ich möchte ergänzen: sowohl das Wissenschaftsverständnis als auch die wissenschaftliche Praxis als ein bloßes Herumprobieren und Spekulieren anzusehen, muß wieder ein Ende haben. An seine Stelle müssen, neben Versuch und Irrtum, wieder Ratio und Verstehen treten!

Der 5. Abschnitt in Text (III/3) "Die Mittel der Aneignung des Fremden in der Kognition" beginnt mit dem Halbsatz: "Auch wenn unsere Objektivität mehr als zweifelhaft ist, halte ich es trotzdem für möglich, unser Erkennen und Wissen zu objektivieren". Man könnte darin eine weitere Parallele zwischen Poppers und meinen Thesen sehen, nämlich zu Poppers Satz (S.39): "Die Idee der Annäherung an die Wahrheit ist meiner Meinung nach eine der wichtigsten Ideen der Wissenschaftstheorie." Während ich jedoch klar sage, durch was eine Objektivierung erreicht werden kann, nämlich durch das ins Kalkülstellen der subjektiven Strategien und Methoden der Urteilsfindung, von denen ich die wichtigsten nenne, bleibt Popper, dem das Subjekt kein Gegenstand seiner Überlegungen ist, eigentlich nur die Hoffnung, daß durch Versuch und Falsifikation unzutreffende Theorie eliminiert werden können. Das ist in seiner Sicht die Methode, "der Annäherung an die Wahrheit", einer Wahrheit, die zwar selbst nicht weiter erläutert wird, die jedoch so klingt, als gäbe es eine Wahrheit an sich und hinge nicht jede "Wahrheit" von der Verständigkeit und den Erfahrungen des sie Begreifenden ab. Die Annäherung hofft er in weiten Schritten gehen zu können, d. h. durch "Theorien mit großem informativen Gehalt", den er "die Kühnheit einer Theorie" nennt (S.40) "So suchen wir zwar die Wahrheit, aber wir sind nur an kühnen, riskanten Wahrheiten interessiert." Riskante Wahrheiten? Ist hier jemand dem Politskandal eines Mächtigen auf der Spur? Ein neues Watergate? Oder klingt hier nicht eher Ratlosigkeit durch, die auch Poppers Vokabel vom "Vermutungswissen", und sein Reden vom Wissen als "Hypothese" und "Raten" belegt? Fakt ist nämlich, daß Popper und andere Wissenschaftstheoretiker und -Praktiker, die so gern Vergleiche zwischen Einsteinscher und Newtonscher Theorie anstellen, Newtons streng rationales, Erkenntnissicherheit schaffendes Vorgehen, überhaupt nicht verstanden haben. Während Einstein sich auf seine unhinterfragten Intuitionen verließ, war Newton im besten und genauesten Sinne, zumindest was seine Mechanik betrifft, ein kritischer Rationalist, der mit seiner Differentialrechnung darüber hinaus den objektiven Umgang mit Daten sicherstellte. Nur abgeklärte Begriffe und Prämissen sowie die Objektivität sicherstellende Methoden sorgen für die Zuverlässigkeit und Nachvollziehbarkeit eines Wissens. Und diese durchgehende Rationalität ist das, was Wissen vom Glauben unterscheidet. Etwas Geglaubtes muß ja nicht zwangsläufig falsch sein, doch bleibt es eben ein Glaube, wenn es sich der Überprüfbarkeit entzieht. Daher wäre Newtons Lehre von Wissenschaftsphilosophen zuerst einmal wegen ihres Vorbildcharakters zu loben - ein Lob jedoch, das ich noch immer vermisse, was ich als Ausdruck von Ratlosigkeit sehe, was eine objektive Wissenschaft im besten Sinne ausmacht. Die Einigkeit von Wissenschaftlern allein kann dies doch nicht sein, kann doch niemand sehen, welches Interesse dahinter steckt, z.B. bloßer Konformismus, um sich im herrschenden Zeitgeist in Amt und Würden zu halten.


Hoimar v. Ditfurth/Der Geist fiel nicht vom Himmel. Die Evolution unseres Bewußtseins
1988 dtv München, 9. Auflage

Einleitung: Der Geist fiel nicht vom Himmel  Seite 11 - 16

Der vor allem durch seine Fernsehserie "Querschnitte" als Wissenschaftsjournalist bekannt gewordene Neurologe Hoimar v. Ditfurth erschien mir immer als eine der klügsten Menschen, selbst als ich andere Berühmtheiten der Wissenschaft, wegen der mangelnden Rationalität ihrer Lehren oder/und weil ihr Denken ihrem Wissen nicht angepaßt war, schon mit skeptischen Augen zu sehen begonnen hatte. Daher war es auch immer mein Wunsch, Bücher von ihm zu lesen. Jetzt, nachdem ich selbst über "Die Generierung des Geistigen" und über "Das Verstehen des Verstehens" geschrieben habe, ergab sich mir die Möglichkeit, sein Buch "Der Geist fiel nicht vom Himmel" zu beginnen und v. Ditfurths Thesen mit den meinen zu vergleichen. Ich werde daher hier nicht so sehr über das 1976 erstmals veröffentlichte Buch referieren, sondern vor allem laufend niederschreiben, was mir beim Lesen aufgefallen ist.

So erscheint mir, gleich in der Einleitung, so sehr ich ihr sachlich zustimmen kann, sei es die Unterschätzung der sog. "Materie", sei es der geschichtete Aufbau der Welt, v. Ditfurths große Betonung der "naturgeschichtlichen Unausweichlichkeit" der biologischen und psychischen Evolution übertrieben: "So, wie die Naturgesetze sind, und so, wie die Materie beschaffen ist, war die Entstehung von Leben - genügend große Zeiträume vorausgesetzt - nicht nur wahrscheinlich, sie war auch unausbleiblich. In diesem Buch wird die Ansicht vertreten, daß das auch für unseren Geist gilt."(v. Ditfurth) "Wie die Naturgesetze sind" - man meint hier Karl Marx zu lesen, und der strenge Marxismus seiner Tochter Jutta, die ich bisher als sehr verschieden von ihrem Vater sah, wird einem plötzlich verständlich. Marx glaubte ja auch, daß die gesellschaftlichen Veränderungen - und die Gesellschaft ist ja nur eine besondere Form des Lebens - mit naturgesetzlicher Notwendigkeit daherkommen. Aber wer sind denn diese "Naturgesetze"? Sind sie Ausdruck des Soseins der Natur oder sind sie ihr von außen auferlegt, damit alles seine Ordnung habe? Es ist wohl für den Menschen sehr beunruhigend zu erfahren, daß die Dinge nur ihrer Natur folgen, ohne Zwang eines ihnen übergeordneten Gesetzes und daß sich ergibt, was sich ergibt, ohne jede Absicht. Und so viel Anarchie und Chaos möchte er ihr nicht zubilligen. Irgendein Weltenlenker muß schon sein, schließlich haben Menschen auch ihre Regierungen. Daher ist der ganz unvermutet auftauchende Halbsatz von "den unübersehbaren Hinweis auf eine jenseits unserer Wirklichkeit gelegene Ursache der Welt" doch nicht - einfach nur so - vom Himmel gefallen. Es ist wohl die Kunst heutiger Wissenschaftsjournalistik, Gläubige wie Ungläubige gleichermaßen zu bedienen und letzteren ihren Himmel zu lassen, der hier aber offensichtlich mehr als nur eine Metapher ist.

Aber da ist gleich noch eine andere, "vorsorglich letzte Bemerkung" in der Einleitung, die mich ebenso fragen läßt, ob ich denn das richtige Buch lese und ob ich den Autor nicht falsch eingeschätzt habe. "Selbstverständlich ist es auch auf diesem naturgeschichtlich-genetischen Weg, auf dem wir uns hier dem Phänomen des Psychischen nähern wollen, gänzlich unmöglich, etwa eine Antwort auf die Frage zu finden, was Geist oder Bewußtsein oder Gefühl 'ist'." Nun mag die Darstellung zwar auf dem "naturgeschichtlich-genetischen Weg" erfolgen, aber wir werden v. Ditfurths Buch ja doch wohl im vollen Besitz unserer Geisteskräfte lesen und da hätten wir schon gern, in einem Buch von 340 Seiten über die Entwicklung des Geistes, etwas darüber erfahren, was denn das ist, was sich da entwickelt und wovon wir Gebrauch machen, und nicht nur gehört, daß dies zu wissen "gänzlich unmöglich" sei, weil es uns an einer Metaebene fehlt. (Umgekehrt fehlt es aber gewissen Menschen offensichtlich nicht an einer Metaebene, von der aus sie die Ursächlichkeit des Jenseits für diese Welt beurteilen können.) Ich habe, in Bezug auf die Natur des Geistes, zu einer positiven Antwort nur gut eine Seite gebraucht, gerade in Anbetracht seiner Genese!!! Text (III/1a) Und das Leben habe ich nicht von einer Metaebene her definiert, sondern von der Wirkung der Materie her, aus der es besteht Text (III/2). Erst wenn man aufhört, den Himmel als Joker im Hinterkopf zu haben, sondern endlich beginnt, die Welt als unerschaffen und ohne Grenzen in Zeit und Raum zu begreifen, Text (I/C3), erst dann wird man m. E. dem Gedanken einer autonomen Evolution als eines selbstschöpferischen Prozesses voll gerecht. Und die von mir vorgestellte Integration von Philosophie und Gehirnforschung müßte auch ganz in B. Irrgangs Sinn einer Neurophilosophie sein, als der im 21. Jahrhundert notwendigen Weiterentwicklung der Evolutionären Erkenntnistheorie. (s. "Zum Thema Neurophilosophie" am Schluß von Text (III/3)

Schlußkapitel: An den Grenzen der Erkenntnis und Unsere Situation  Seite 307 - 318

Nachdem mir die Rückgabe von Hoimar v. Ditfurths Buch "Der Geist fiel nicht vom Himmel" angemahnt wurde, ohne daß ich bisher dazugekommen bin, weiter in ihm zu lesen, habe ich mir wenigstens noch die beiden letzten Kapitel angesehen. Mit "An den Grenzen der Erkenntnis" zeigt mir Hoimar v. Ditfurth jene Klugheit, die ich aufgrund seiner Fernsehauftritte bei ihm vermutet hatte. Die Einsicht von der Abhängigkeit unseres Erkenntnisvermögens von der bisherigen biologischen Entwicklung läßt ihn den Schluß ziehen, daß es "Ausdruck anthropozentrischer Naivität wäre, wenn wir uns dem Gedanken überlassen würden, dieser Prozeß sei ausgerechnet heute, in unserer Gegenwart, zum Stillstand gekommen." "Auch wir sind in Wahrheit nur die Neandertaler unserer biologischen Nachfahren." Lassen wir dahingestellt, ob dies zwangsläufig so sein wird, wie v. Ditfurth gern annimmt, oder ob wir vielleicht immer dümmer werden, da wir ja auch nicht das Weltverständnis der Neandertaler kennen, die ja ein größeres Gehirn hatten als der homo sapiens sapiens.

Da nach meiner These das Gehirn objektiv nichts weiß, wird es für mich mit seinem Wachsen zwangsläufig nicht objektiver, sondern gewinnt vor allem an Fähigkeit, aus den einströmenden Daten zunehmend mehr Bedeutungen zu generieren, also ein reicheres Geistesleben zu entfalten, bei dem sich bestenfalls die Frage nach seiner inneren Wahrheit stellt. Daß v. Ditfurth auf Seite 309 von der "Verarbeitung der aufgenommen Informationen" spricht, statt von Daten, die zu Informationen verarbeitet werden, zeigt die Grenzen seiner Erkenntnis. Und natürlich ist bei ihm auch immer wieder von "Anpassung" die Rede, der Lieblingsvokabel der Biologen, und nicht von der Entfaltung biologischer Möglichkeiten, bei deren Selektion die für den Beobachter angepaßteren übrig bleiben. Interessant ist, daß er "die Zählbarkeit der Dinge dieser Welt" erwähnt, ohne zu sagen, daß alles Zählen Unterscheidungen voraussetzt, die der Zählende macht, jedoch richtig bemerkt, daß die Zählbarkeit auf einer Veränderung unserer Großhirnrinde beruht und nicht auf einer Veränderung in der Welt, was ja auch absurd wäre. Daß die Entwicklung geistiger Fähigkeiten keinen definitiven Endpunkt haben kann, zeigt sich auch darin, daß heute v. Ditfurths kluge Bemerkungen von 1976 in manchen Punkten schon antiquiert erscheinen, der sich, aller gescheiten Einsichten zum Trotz, wie die, daß die von uns erlebte Wirklichkeit "die Schöpfung unseres Gehirns" sei, letztlich doch als Anhänger einer naiven Abbildhypothese erweist.

Im Schlußkapitel "Unsere Situation" sieht der Autor des Buches die Rekonstruktion der Entwicklungsgeschichte, die ja eben auch nur die heutige Sicht der Dinge ist, gleichzeitig als Beweis an, "daß wir keine rationalen Wesen sind." Sehr richtig! Darum müssen wir uns ja auch auf allen Stufen der Erziehung bemühen, Rationalität zu entwickeln, was ja mein Anliegen ist. Die Freiheit des Denkens gewinnen wir nur dadurch, daß wir uns die subjektive Basis unser Interpretationen bewußt machen und so die notwendige Distanz zu uns selber schaffen. "Wie stets, so ist die Desillusionierung auch in diesem Fall hilfreich."

Dann befaßt sich v. Ditfurth mit den Konsequenzen, wenn die Ursachen menschlicher Beschränktheit nicht erkannt werden und der "böse Wille", "der Teufel" oder "Konterrevolutionäre" für das Versagen von Theorien vor der Wirklichkeit verantwortlich gemacht werden, mit allen blutigen Konsequenzen, von denen menschliche Geschichte so reich ist. Seine Formulierung: "Selbst die Kirche ist gegen diese Gefahr nicht immer gefeit gewesen", wirkt jedoch wie Hohn auf die Millionen unschuldiger Opfer ihrer langen Geschichte, nicht nur der Kreuzzüge und der Inquisition. Und auf die optimistische These: "Diese furchtbare Verirrung liegt glücklicherweise lange zurück", sollten wir lieber keine Probe auf das Exempel wagen angesichts der Tatsache, unter welchen Restriktionen Christen zu leiden haben, die sich nicht zu den Vorstellungen ihrer kirchlichen Oberen konform verhalten. Man denke hier nur an katholische Priester, die sich zur Liebe zu einer Frau bekennen. Diese Kirche predigt jene Menschenliebe, die an ihrer Hierarchie spurlos vorüber gegangen ist. v. Ditfurth erwähnt dazu die Praxis des Exorzismus, die für fehlendes Wohlverhalten die Ursache in einem Widersacher außerhalb des Individuums sieht. Wer der nichtrationalen menschlichen Natur Gewalt antut, wird, wenn er dazu die Macht hat, "früher oder später unausweichlich dazu gezwungen, diese Gewalt auch konkreten einzelnen Menschen gegenüber anwenden zu müssen." Zum Ausklang seiner Betrachtungen zur menschlichen Natur bemerkt er, daß wir lernen müssen, die Unvollkommenheiten des Menschen auszuhalten. "Nur dieser Schritt kann uns auch davon abbringen, den Versuch fortzusetzen, uns mit Ideologien zu vergewaltigen, die unserer Natur nicht entsprechen", sind doch alle geistigen Wahrheiten Wahrheiten aus zweiter Hand.

Ganz am Schluß "wagt" v. Ditfurth "noch eine letzte Vermutung", die wieder alles das desavouiert, was er vorher auf über 300 Seiten aus seinem reichen Wissen entwickelt hat, was sich für mich aber schon in der Einleitung angekündigt hatte: "Geist gibt es in der Welt nicht deshalb, weil wir ein Gehirn haben. Die Evolution hat vielmehr unser Gehirn und unser Bewußtsein allein deshalb hervorbringen können, weil ihr die reale Existenz dessen, was wir mit dem Wort Geist meinen, die Möglichkeit gegeben hat, in unseren Kopf ein Organ entstehen zu lassen, das über die Fähigkeit verfügt, die materielle mit dieser geistigen Dimension zu verknüpfen." Entgegen seinem Buchtitel ist Hoimar v. Ditfurth letztlich doch davon überzeugt, daß der Geist vom Himmel fiel und sich dazu der Evolution nur bediente. (siehe auch Text (II/13 "Das Bewußtseins des Seins") War mir doch gleich das Wort "Himmel" bei einem naturwissenschaftlichen Thema verdächtig! Die Eierschalen des mythischen Denkens sind eben auch für modern sein wollende Forscher nur sehr schwer abzulegen, wie sich dies hier auch bei der Untersuchung des Einsteinschen Lehre und heutiger Vorstellungen von Kosmologen erschreckend gezeigt hat. Schon wer von "Umwandlung von Masse in Energie" spricht, offenbart ein magisches Denken. Die Energie hat nach Einstein selbst Masse, nämlich E/c² = m, auch wenn er davon wegen seiner Lorentz-Transformationen nichts wissen wollte, weshalb Masse nicht in Energie umgewandelt sondern nur freigesetzt werden kann. Bei einer Atombombe wird lediglich Bindeenergie durch Atomspaltung frei (nach Heisenberg und der musste es ja wissen). Streng genommen, sind aber Masse und Energie nur physikalische Größen und keine physikalischen Gegenstände, so dass die ganze Redeweise sowieso uneigentlich ist.

Das Buch ist für mich ein Beispiel, zu was es führt, wenn man das, worüber man schreibt und um was es im Titel und auf über 300 Seiten geht, nicht definiert. Man weiß dann gar nicht, von was man redet. Und da entschuldigt es einen auch nicht, wenn man dies am Anfang freimütig eingesteht, wo es heißt: es ist "gänzlich unmöglich, etwa eine Antwort auf die Frage zu finden, was Geist oder Bewußtsein oder Gefühl 'ist'." Dann soll man, bittschön, darüber auch keine "letzte Vermutung" anstellen, wenn man es schon nicht lassen kann, ein Buch über das zu schreiben, was man angeblich nicht wissen kann, denn die "letzte Vermutung" ist dann ebenso nichtssagend wie der verwendete undefinierte Begriff. Und da wir auch vom "Himmel" nichts wissen können, ist vermeintlicher Tiefsinn nur Dampfplauderei. Was wir jedoch ehrlicherweise sagen können, ja, sogar sagen müssen, gerade wenn wir versucht haben, die biologische Bedingtheit unseres Erkenntnisvermögens zu verstehen, ist die Einsicht, daß die Realität alle Denkbarkeit übersteigt, weshalb es keine absoluten sondern höchstens vernünftige Wahrheiten gibt, um die wir immer wieder ringen müssen.
ergänzt am 26. August 1999

Ausführliche Informationen über Hoimar v. Ditfurth und sein Lebenswerk finden Sie auf der sehr informativen und hervorragend betreuten Website von Heinz Boente
Link hier
Trotz meines kritischen Kommentars enthält sie in der Rubrik "Internet" einen Link zu dieser Seite, sowie einen lobenden Hinweis auf meine ganze Homepage, den ich gern erwidere.


Humberto Maturana/Was ist erkennen? Mit dem Kolloquium "Systemtheorie und Zukunft"
herausgegeben und mit einem Essay zur Einführung von Rudolf zur Lippe. Aus dem Englischen. Serie Piper, Taschenbuchausgabe 1996, 244 Seiten

Auch für dieses Buch des chilenischen Biologen gilt das, was er und Francisco Varela bereits am Ende des Vorworts zu ihrem bekannten Buch "Der Baum der Erkenntnis" schrieben: "In erster Linie ist dieses Buch jedoch eine Einladung an den Leser/die Leserin, seine/ihre gewohnten Gewißheiten loszulassen und so zu einer anderen Sichtweise dessen zu gelangen, was das Menschliche ausmacht." Diese Sichtweise wird anhand von Funktionen entwickelt, wogegen ein operationales und damit aneignendes Vorgehen abgelehnt wird. Im Mittelpunkt von Maturanas Überlegungen steht die Einsicht, daß Lebewesen sich dadurch charakterisieren, daß sie sich andauernd selbst erzeugen. Ihre Organisation ist also eine autopoietische (von griech. autos = selbst; poien = machen), die ihren inneren Kohärenzen folgt, während äußere Einflüssen sie nicht determinieren können sondern Störungen sind, auf die das autopoietische System nach seinen eigenen Möglichkeiten und Erfordernissen reagiert. Maturana nennt dieses Verhalten "strukturdeterminiert". Das hat z.B. zur Folge, daß die Struktur des Lesers/Hörers festlegt, was er einem Satz entnimmt. Erkennen ist ein Tun, ist die Antwort des Autors auf die Titelfrage, und die Annahme einer von uns unabhängigen Außenwelt ein schöner Schein, auch für die Wissenschaft völlig entbehrlich. Wem diese Aussage mißfällt, weil sie seinen Denkgewohnheiten entgegensteht, der sollte sich einmal fragen, was ihm denn die Erkenntnis ermöglicht, wenn es nicht die ihm gegebenen Fähigkeiten sind? Und diese Fähigkeiten zielen immer auf den Erhalt der Organisation ab und nicht auf den Luxus einer nutzlosen objektiven Erkenntnis. Oder wie ich sage: Wissen ist ein Mittleres, Welt Vermittelndes, mit dem wir uns die Welt geistig aneignen. Das große Verdienst Maturanas ist es eben, das Erkenntnisproblem originär vom lebenden Wesen aus bedacht zu haben und nicht von der immer schon vorgegebenen Meinung und den wechselnden Begründungen des naiven Realismus, daß es für uns eine unabhängige Realität gibt und die Dinge daher schon so sein werden, wie wir sie wahrnehmen.

Die Gretchenfrage ist für Maturana: Wie halten wir es mit dem Beobachter? Je nachdem, ob wir den Beobachter akzeptieren oder nicht, gibt es zwei Wege des Denkens: Objektivität in Gänsefüßchen und Objektivität ohne Gänsefüßchen. Objektivität mit Gänsefüßchen impliziert, daß für den Beobachter nichts unabhängig von den Unterscheidungen existiert, die er trifft. Obgleich Niels Bohr den Physikern klar zu machen versucht hat, daß wir im Spiel des Lebens Zuschauer und Mitspieler zugleich sind, ist jedoch die gängige Praxis in der Physik, die Annahme einer von uns unabhängigen Außenwelt, mit all den sich daraus ergebenden Problemen. Entsprechend seiner Einsicht von der Eigendeterminiertheit lebender Wesen setzt sich Maturana sehr hellsichtig mit Einsteins Argumenten zur Rettung des "transzendentalen Determinismus" auseinander und führt so Bohrs erkenntniskritisches Bemühen auf der Grundlage der Biologie fort. Für Maturana bedeutet "Determinismus" lediglich: empirische Kohärenz und darauf gestützte Erklärungssysteme, die über "den Sinn von Handlungen und Aussagen entscheiden."

Das Buch geht auf 6 Vorlesungen im Wintersemester 1991/92 an der Universität Oldenburg zurück, gehalten im Rahmen der "Karl-Jaspers-Vorlesungen zu Fragen der Zeit", desgl. das angefügte dreitägige Colloquium "Systemtheorie und Zukunft", abgehalten in einem ehemaligen Kloster. Die "Jaspers-Vorlesungen" wurden zum "Deutschen Beitrag zur Weltdekade für kulturelle Entwicklung der UNESCO" erklärt! Während Maturanas Überlegungen von der Strukturdeterminiertheit lebendiger Systeme durch Luhmann und ihre Übertragung auf soziale Systeme eine Eigendynamik entwickelt haben, die nicht im Sinne ihres Schöpfers ist, weil darin Individuen, um die es Maturana ging, gerade keine Rolle mehr spielen, stoßen seine Gedanken zur Kognition natürlicherweise auf Befremden. So ist "Was ist erkennen?" auch keine Lesebuch zum Lernen sondern eine Herausforderung an den mündigen Leser, seine Beobachterrolle und seine Verantwortungen zu erkennen. Dabei ist es nicht ohne Humor geschriebenen, anekdotisch angereichert, manchmal schon fast mehr eine Erzählung, was Amerikaner sehr schätzen, während wir Europäer, vor allem als Philosophen, mehr Wert auf Argumente legen würden. Auch mögliche paradiesische "systemische" Zustände vor dem Heraufdämmern des Patriarchats, das alles unter seine Kontrolle bringen will, wie die heute Regierenden unter Vorwänden das Internet, werden dargestellt. Im angefügten Colloquium regieren bei Maturana auch schon mal die Gefühle, wenn einer der Diskutanten nicht bereit ist, sich auf seinen Verständnishintergrund einzulassen, oder wenn ihm vorgehalten wird, daß er beim Antworten immer lange Sequenzen benötigt, was m.E. beides Hinweise auf argumentative Schwächen sind. Letztlich ging es um Zukunftsfragen und die Verantwortung von Philosophen und Wissenschaftlern. Der Initiator der "Karl-Jaspers-Vorlesungen zu Fragen der Zeit" und der Herausgeber des Buches, Rudolf zur Lippe, hat am Ende seines einführenden sehr klugen Essays u.a. folgendes gesagt, dem ich mich anschließen möchte: "Das Denken der Menschen soll nach seiner (Maturanas) Lehre ebenso ein auch liebendes sein wie das Leben der Menschen überhaupt, so daß dieses Denken als Lebensgeste mit der Verpflichtung zu kritischer Reflexion und zu verantwortenden Abwägen im Miteinander gefordert ist."

Veröffentlicht in der philosophischen Zeitschrift "Aufklärung und Kritik" 1/1997


Einführung in den Konstruktivismus
Veröffentlichungen der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Band 5. Herausgeber: Heinz Gumm und Heinrich Meier, Piper Verlag, 3. Auflage 1997

Die Vertreter des Konstruktivismus behaupten, die Wirklichkeit wird von den Menschen nicht gefunden, sondern vielmehr erfunden. Diese Annahme - für Viele eine Provokation - bedeutet, daß Erkenntnis einer absoluten Wahrheit prinzipiell nicht möglich ist. Ernst von Glasersfeld richtet zunächst den Blick zurück. Schon z.B. Demokrit erklärte im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, daß wir nicht erkennen können, wie die Wirklichkeit eines Dinges beschaffen sei. Nach Pyrrhons Schule in Athen um 300 vor unserer Zeitrechnung ist eine Erkenntnis der Wirklichkeit nicht möglich. Jeder Behauptung liege nur eine subjektive Kenntnis zu Grunde. Letztlich trete ein Gleichgewicht der Gründe für und wider ein.

Montaigne qualifiziert die Meinung etwas zu wissen als Seuche der Menschen ab. Für Descartes ist fraglos nur sicher, daß er lebt. Kant zerstörte in der "Kritik der reinen Vernunft" die Grundlage jeder Hoffnung auf unverfälschte Erkenntnis. Jean Piaget hat 1937 erklärt, daß kognitive Strukturen, die wir "Wissen" nennen, nicht als Kopie der Wirklichkeit verstanden werden dürfen. Silvio Ceccato wies 1962 darauf hin, daß Wahrnehmung und Erkenntnis nicht ontische Objekte widerspiegeln, sondern als kreative Tätigkeiten zu betrachten seien.

Diese Schlüsse sind ein Schlag gegen den menschlichen Egozentrismus, der weithin ungebrochen dominiert. Der Streit geht letztlich darum, ob sichere Erkenntnis auf dem Gebiert der Ontologie möglich ist, oder ob Erkenntnis und Wissenschaft nur Mittel sind, zu Zielen zu gelangen, die der Erlebende sich jeweils selbst wählt. Mittels Sinnesorganen und auch Instrumenten stellen wir lediglich Phänomene fest (wir befinden uns also auf der Seite des Scheins), jedoch nicht die ontische Wirklichkeit (wir erfahren also nicht das Sein). Die konstruktivistische Denkweise stellt die Verbindung zwischen ontologischer Wirklichkeit und der Welt der faßbaren Erlebnisse durch den Begriff des Passens (oder auch Viabilität) im Sinne des Funktionierens dar. Wir bauen unser Weltbild auf Signalen auf. Aus diesen Signalen werden Gegenstände und Vorgänge konstruiert, die zu den Phänomenen passen. Es werden also passende Modelle erdacht. Nach dieser Auffassung geht es bei der Erkenntnis also nicht um "wahrheitsgetreue Darstellung der Wirklichkeit", sondern lediglich um eine Anschauung, die von Wahrnehmungen, Begriffen und Theorien nur Passung und Brauchbarkeit verlangt.

Auch der Konstruktivist muß die Möglichkeit haben, zwischen "Illusion" und "Wirklichkeit" zu unterscheiden. Dies ist nicht mehr möglich durch Berufung auf eine ontologisch begründete Welt. Die Bestätigung einer Konstruktion ist zunächst die intersubjektive Wiederholbarkeit des bestimmten Phänomens. Indem der Fluß des Erlebens segmentiert und Teilstücke aufeinander bezogen und verkettet werden, schafft sich das Subjekt Modelle - so erwächst die Konstruktion einer kohärenten Wirklichkeit. Solche Modelle können in Kategorien zusammengefaßt werden - und wo immer möglich - miteinander in Beziehung gesetzt werden.

Der Konstruktivismus will also eine Theorie des Wissens sein und nicht eine Theorie des Seins.

Vertiefungen und Verbreiterungen dieses Denkansatzes bringen die weiteren Beiträge von Heinz Förster (Verstehen verstehen), Paul Watzlawick (Psychotherapie), Peter M. Heil (Sozialtheorie) und Siegfried J. Schmidt (Literatursystem). Eine Bibliographie der schnell anwachsenden Literatur bis 1991 ergänzt die Texte.

Verfaßt von Prof. Dr. Dr.-Ing. Wolfgang Dittrich, TU München
Veröffentlicht in der philosophischen Zeitschrift "Aufklärung und Kritik" 1/1998


Wolf Singer/Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1571, Frankfurt am Main 2002, 238 Seiten, € 11,-

Wer philosophischer Einsicht nicht folgen mag, dass das Hirn ein interpretierendes Organ ist, das mit Hypothesen arbeitet und seine Urteile anhand von Erwartungen und Plausibilitäten fällt (so sinngemäß schon Parmenides /540-480/, dem alle Urteile "doxa" = bloße Meinungen waren, soweit sie nicht auf abgeklärten Prinzipien beruhen), kann dies nun Wolf Singers gerade erschienenen Essays zur Hirnforschung entnehmen. Singer ist Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main und ist als Neurobiologe/-physiologe durch Auftritte im Fernsehen und durch Veröffentlichungen bekannt. Seine Essays sind nichts auslassende und nichts beschönigende Texte zur Hirnforschung und ihren Konsequenzen für menschliches Selbstverständnis. Ebenso zu loben aber ist, dass Singer - entgegen der Behauptung des Rezensenten seines Buches in der SZ, getreu deren Paradigma, vom 26. April 2002 - weder die Geisteswissenschaften angreift, noch den reduktionistischen Vereinnahmungsversuchen der ganz harten Fraktion der Naturwissenschaftler folgt, welche die neurophysiologischen Korrelate bewusster Prozesse gleich für das Bewusstsein selbst ausgeben, um ihren Materialismus zu "beweisen". Im Gegenteil: die Eigenständigkeit emergenter Phänomene wird von Singer ausdrücklich anerkannt. So schreibt er auf Seite 179 und ähnlich an anderen Stellen: "Es wäre verfehlt, wollte man versuchen, das System der Beschreibung der emergenten Phänomene durch das System der Beschreibung der hervorbringenden Prozesse zu ersetzen." Ob jedoch zur Herstellung von Bezügen zwischen den unterschiedlichen Ebenen gleich eine von ihm angeregte "Metasprache" erforderlich ist, möchte ich bezweifeln, hat es jedoch z.B. zur Verständigung über die Besonderheiten der Quantenphänomene genügt, die Sprache der klassischen Mechanik entsprechend zu differenzieren. Doch richtig und wichtig ist es, die Phänomene und Ergebnisse der emergenten Ebene unter den Bedingungen der hervorbringenden Ebene zu verstehen, um sie ggf. entsprechend lenken bzw. korrigieren zu können. Im Falle der Hirnforschung sehe ich die Lösung in einer Neurophilosophie, welche philosophische Erkenntnistheorie und Neurophysiologie gezielt in Einklang zu bringen versucht, wovon ich selbst schon Beispiele gegeben habe, z.B. in meinem Essay "Was uns veranlasst, eine Aussage für 'wahr' zu halten" und "Das Gehirn und sein Ich. Eine notwendige Klärung", abgelegt unter (II/4) bzw. (II/7.

Wenn so unterschiedliche Auskünfte aus der Hirnforschung in die Öffentlichkeit dringen, nämlich solche, die echte Emergenz bestreiten und solche, welche sie zu verstehen versuchen, so liegt das an unterschiedlichen Sichtweisen, die aber gerade die Eigenständigkeit der geistigen Ebene beweisen, die eben nicht von irgendeiner physikalischen oder chemischen Naturnotwendigkeit gesteuert wird. Von der geistigen Ebene, wie im Nervensystem selbst, werden selbstgenerierte Urteilskriterien an die Phänomene herangetragen. Und auf beiden Ebenen wird einfach probiert, wie weit ihnen die gewählten Annahmen hilfreich sind. Und der undogmatische, nach dem Krieg in Deutschland entwickelte Ansatz, das Gehirn als ein aktives, Initiativen ergreifendes Organ zu verstehen, bei dem Wahrnehmungen, Empfindungen und Motivation das Ergebnis aktiver, konstruktiver Prozesse sind, hat zu einer Offenheit der Forschung und Sprache geführt, der wir auch Singers Buch und seine offenen Worte verdanken. Und so erfahren wir von ihm u.a., warum das so ist, dass Hans das nimmer lernt, was Hänschen nicht gelernt hat, weil die am Anfang des Lebens reichlich vorhandenen Kognitionsstränge im zur Verfügung stehenden Zeitraum ungenutzt blieben und deshalb vom Hirn eliminiert wurden, was Konsequenzen in Erziehung und Bildung notwendig macht. Wie ein Überschuss an Nachkommen und deren Selektion das Überleben der Tüchtigsten bewirkt (Darwin), so gehört es zur Strategie des Hirns, reichlich aus den Sinnen kommende Kognitionsstränge anzubieten und nur die eingeübten und untereinander kohärenten zu behalten, um die Qualität der kognitiven Leistungen zu verbessern, dem Rechnung tragend, dass unmöglich jedes Detail durch die Gene gesteuert werden kann. So erfahren Leser durch Singers Buch vieles über sich, was sie immer schon wissen wollten und sollten.

In mehreren Essays benutzt Singer das von der Hirnforschung wohl bisher am besten untersuchte Beispiel der Datenverarbeitung im Gehirn, das des Sehvorgangs. Singer zeigt, wie aus der zweidimensionalen Helligkeitsverteilung des Netzhautbildes über Umwandlung von Bildpunkten in elektrische Signale und deren paralleler Bewertung und Bearbeitung in verschiedenen Hirnarealen, durch die intensive Wechselwirkung dieser Areale eine kohärente Aussage entsteht. "Bedeutsamer wird mit zunehmender Entfernung von den Sinnesorganen selbstgenerierte Aktivität (der Nervenzellen), welche von den Sinnessignalen lediglich moduliert wird." "Das System beschäftigt sich hauptsächlich mit sich selbst; 80 bis 90% der Verbindungen sind dem inneren Monolog gewidmet." Während Singer so mehrmals den Übergang von materiellen Daten mittels Hypothesen in Informationen aufzeigt, wird dieser für die Erkenntnistheorie so entscheidende Sachverhalt von ihm jedoch nicht eigens thematisiert. Nirgends liest man bei ihm eine Definition von Information als die plausibelste Deutung von Daten oder wenigstens die klare und konsequente Unterscheidung beider Begriffe, obgleich Singer diesen Übergang durch Interpretation aufzeigt und auch genau dieses Wort benutzt. Ist es eine allgemeine Zurückhaltung des Naturwissenschaftlers oder wollte er einfach die objektivistische Fraktion der Kollegen nicht zu sehr herausfordern? So bleibt es dem Neurophilosophen überlassen dies deutlich auszusprechen, der auf solche Empfindlichkeiten keine Rücksicht nehmen muss. Ja, und etwas weniger Fremdwörter (ich meine hier nicht Fachbegriffe) oder zumindest ein Glossar hätte er sich und den hoffentlich trotzdem zahlreichen Lesern schon gewünscht. Für den Neurophilosophen selbst liefert Singers Buch zwar Neues, aber kaum Überraschendes, außer der seltenen Feststellung, dass es erfreulich ideologiefrei geschrieben ist und auch vor tabuisierten Fragen nicht zurückschreckt.

In dem kurzen Kapitel "Zur Prägung ästhetischer Normen" (S.227) schreibt Singer: "Genetisch festgelegt sind bestimmte fundamentale Strukturmerkmale, wie sie sich in der Logik der Syntax und der Grammatik niederschlagen. Das Gehirn kommt schon mit ganz bestimmten Hypothesen (Vorwissen) über die Struktur von Sprache zur Welt und erlernt dann lediglich die kulturspezifischen Vokabeln und Modifikationen der Grundstruktur." So richtig der Lernvorgang beschrieben wird, so fraglich halte ich die genetische Festlegung der "fundamentale(n) Strukturmerkmale". Die ist nämlich nicht erforderlich, weil die fundamentale Struktur unseres Sprechens die kognitive Situation selber ist, aus der wir nicht ausbrechen können - s. (II/8) "Ursprung und Inhalt der Grammatik". Bleibt bei der Annahme einer genetischen Festlegung die Entstehung der Strukturen offen, wird ihre Unausweichlichkeit bei einer kognitiven Betrachtung einsehbar. Es heißt bei mir: "Die Grammatik spiegelt die geistige Situation des Subjekts. Ihre Formen sind die Darstellung geistiger Operationen, weshalb Grammatik weder angeboren ist, noch gelernt werden muss. Sie ergibt sich im Prozess der intellektuellen Reifung des Kindes und muss von ihm, anhand von Mustern, nur noch geübt werden." Diese Diskrepanz zu Singer ist ein Beispiel für die Notwendigkeit, neuronale Untersuchungen mit philosophischen Einsichten zu verbinden, soll das Verständnis neuronaler Prozesse vertieft werden, wie ich dies schon bei der Besprechung des Buches von Ernst Pöppel "Geheimnisvoller Kosmos Gehirn", Text (II/6) gezeigt habe. Und man versteht etwas am allertiefsten, wenn man es in seiner Ursache bzw. seiner Unausweichlichkeit versteht. Die Zukunft der Erkenntnistheorie gehört für mich der Neurophilosophie (s. auch den Anhang des vorhergehenden Textes (III/3) "Zum Thema Neurophilosophie" - Link ganz oben). Schade, dass sich Singer zu meinem ihm per E-Mail zugegangenen Einwand gegen die genetische Festlegung der Struktur von Sprache nicht geäußert hat. So bleibt der Einwand aber auch unwidersprochen.

Auszug aus meiner E-Mail vom 4. April 2014 an Gert Scobel u.a. zu seiner Sendung vom 3. April in 3SAT "Das Manifest der Hirnforscher" bei der auch Herr Singer zu Gast war.
Sehr geehrter Herr Scobel,
...Herr Singer sieht zwar, dass vieles Interpretation ist, was wir sagen, doch will er wegen des objektivistischen Dogmas nicht zugeben, dass das Gehirn generell ein interpretierendes Organ ist. Auch mit der Willensfreiheit tut er sich schwer, weil er vom Determinismus nicht lassen kann. Er hat also massive weltanschauliche Probleme, die er sich nicht klarmacht. Die Idee, dass Vorgaben des Unbewussten uns fremdsteuern, macht stillschweigend eine Trennung von Unbewussten und Bewussten. Aber das Bewusstsein ist selbst nur ein Korrektivorgan des Unbewussten*, um seine Entscheidungen überprüfen zu können. Beides ist eines und wir sind es selbst. Wo das geleugnet wird, folgt man nur der Taktik des Gehirns, sich nicht in die Karten schauen zu lassen, um weiterhin Plausibilitäten als objektive Wahrheiten verkaufen zu können. Man ist also hereingefallen.
Mit freundlichen Grüßen
Helmut Hille

Anmerkung
*Die Bezeichnung des Bewusstseins als "Korrektivorgan des Unbewussten" ist eine mir beim Schreiben spontan eingefallene Definition, die m.E. den Kern des Verhältnisses zwischen Bewussten und Unbewussten trifft. Da beim Googeln nach "Korrektivorgan des Unbewussten" u.ä. Kombinationen mir immer nur meine eigene Definition angeboten wurde, darf ich diese daher als meine Wortschöpfung ansehen. Der Ausdruck "Korrektivorgan" (Duden, 25. Auflage: "Korrektiv = Besserungs-, Ausgleichsmittel") selbst findet sich bei Google aber durchaus in meinem Sinne, jedoch in Zusammenhang mit der Aufgabe des Bundespräsidenten als Korrektivorgan der Politik neben dem Bundesverfassungsgericht oder der Gewerkschaft gegenüber der Wirtschaft. Systeme sind immer dann stabil, wenn sich gegenseitig kontrollierende Organe für ein Gleichgewicht sorgen, während Unkontrolliertes infolge in seiner Eigendynamik stets in der Gefahr steht, auf Dauer zu entarten. (Politik: Notwendigkeit der Gewaltenteilung)

zu Wolf Singer s. auch das nachfolgende Kapitel "Noch einmal Wolf Singer und der freie Wille"


SPIEGEL SPECIAL 4/2003/Die Entschlüsselung des Gehirns
Themen
Noch einmal Wolf Singer und der freie Wille
Zur KI-Forschung: Ende des Größenwahns
Ernüchterung in der Genieforschung
Das Problem der universalen Grammatik
Zwischenruf: Mit was begann Sprache wirklich?
Eine universelle Theorie aller Sinne
Wie neurologisch aus Daten Informationen werden
Lob der Redaktion
zum Weiterlesen auf Seiten von mir und Abdruck "Herausforderer Einstein. Eine Zeit und ihr 'Genie'"

Noch einmal Wolf Singer und der freie Wille
Mit seinem SPECIAL 4/2003 versucht DER SPIEGEL erneut eine Zwischenbilanz der Gehirnforschung1 zu ziehen, ist doch das Gehirn immer noch die größte Terra incognita der Wissenschaft. Weil das Objekt der Forschung zugleich auch das Subjekt derselben ist und es ihm somit an der nötigen Distanz fehlt, ist dies kein Wunder. Zudem hat das Gehirn in Jahrmillionen gelernt, seine Hypothesen immer perfekter als Realität zu verkaufen, so dass jeder, der ihm blind vertraut, nur Marginales zu seiner Erforschung wird beitragen können. Da ist es schon fast Weisheit, wenn ein Gehirnforscher im SWR-TV sagt, dass die Gehirnforschung noch ganz am Anfang steht. Wie die Analyse des Buches von 1994 "Geheimnisvoller Kosmos Gehirn"2 zeigte, haben Autoren und/oder Herausgeber eher die Tendenz, die Arbeitsweise des Gehirns zu verschleiern, sie als "geheimnisvoll" hinzustellen, wie das schon im Buchtitel anklingt, darin der Taktik des Gehirns folgend, das sich nicht gern in die Karten sehen lässt. Oder der Autor stellt wenigstens die entscheidenden Fragen nicht, wie ich in der vorausgehenden Anmerkung zu Wolf Singers Buch von 2002 "Der Beobachter im Gehirn" zeigte. Da die heutige deutsche Gehirnforschung offenbar an Wolf Singer nicht vorbeikommt, wird im SPECIAL unter dem Titel "Unser Wille kann nicht frei sein" als erstes SPIEGEL-Gespräch ein Interview mit ihm recycelt, auch mit den damaligen Bildern, das bereits vor fast 3 Jahren im SPIEGEL 1/2001 abgedruckt war, als es der Redaktion um "Das Universum im Kopf" ging. Weil die Redakteure von ihrer Medienarbeit her offensichtlich recht aufgeklärt sind, fragten Sie Singer: "Wenn, wie Sie sagen, unser Gehirn uns so vielerlei vortäuscht, können wir uns dann überhaupt irgendwelcher Wahrheiten über die Welt außerhalb unseres Kopfes sicher sein?" Darauf Singer: "Richtig ist, unsere Wahrnehmungssysteme sind in hohem Maße interpretativ." ... "Uns gilt es als Wahrheitsbeweis, wenn wir ausprobiert haben, ob eine Sache so funktioniert, wie wir sie voraussagen." ... "Ob wir die Dinge so beschreiben, wie sie wirklich sind, bleibt dabei offen." Aber vor der Konsequenz, das Gehirn gleich als "ein interpretierendes Organ" zu bezeichnen und es unter dieser Prämisse zu erforschen, schrickt auch er im Interview zurück, weil er immer noch glaubt, es könne eine Beschreibung der Dinge geben, "wie sie wirklich sind", als wäre nicht jede Beschreibung notwendig eine Adaption an das Verständnis des Beschreibenden und der möglichen Leser. Dafür betont er seinen Zweifel am freien Willen des Menschens und hält das Prinzip von Schuld und Sühne für verzichtbar. Aus einer reduktionistischen Sicht mag das plausibel sein und in Konsequenz auch zu wünschenswerten humaneren politischen Systemen führen, in denen mehr Demut und Bescheidenheit herrschen, wie Singer darlegt. Doch ich sehe den Menschen aufgefordert, jenseits aller naturwissenschaftlichen Erkenntnis, das Postulat der Willensfreiheit um der menschlichen Würde willen zu setzen, denn es gilt, im Angesicht der Mächtigkeit des Menschen sein Verantwortungs-Bewusstsein für sein Denken und Tun zu stärken und damit auch sein Menschsein jenseits seiner Naturhaftigkeit zu entwickeln3. Auch in diesem Punkt halte ich das philosophische, das Ganze bedenkende Herangehen an zentrale Fragen für unverzichtbar, um die Zukunft des Menschen und den Aufstieg der Menschheit offen zu halten.

Zur KI-Forschung: Ende des Größenwahns
Die Schaffung von künstlicher Intelligenz stellt sich immer mehr als ein Irrweg heraus, weil Forscher in ihrem Objektivismus einfach nicht sehen, was das Gehirn leisten muss, um aus wertneutralen Daten für das Überleben nützliche Information werden zu lassen. Es galt und gilt vielerorts noch die Ansicht, dass die Informationen in der Außenwelt fertig herumschwirren und nur noch zur Kenntnis genommen werden müssen, wie es ähnlich in dem von mir besprochenen Buch von 1994 von Ernst Pöppel dargestellt wird.2 Umso erfreulicher der Bericht vom "Ende des Größenwahns" der KI-Forschung, die das Gehirn als einen Rechner ansah, dessen Kapazität es nur noch zu vervielfachen galt. Doch herausgekommen sind nach Jahrzehnten Forschung und Bastelei immer nur "Fachidioten, die außerhalb ihrer spezifischen Inselbegabung zu wenig taugen." "Allmählich wird klar: die verführerische Metapher des Computers als "Elektronen-Hirn" überzeugte nur deshalb, weil die Forscher nicht wussten, wie echte Gehirne wirklich funktionieren." Wissen Sie es denn heute? In Ansätzen schon: gerade weil das Projekt KI am Scheitern ist, hat dieses Scheitern gelehrt, dass die Auffassung vom Gehirn als Computer einfach zu simpel war. "Computer- und Hirnforschung haben in den letzten 50 Jahren eine rasante und durchaus fruchtbare Koevolution durchlaufen - einen Selbsterkenntnisprozess sozusagen, geprägt von kreativen Missverständnissen."4 War einst der PC ein Hirnmodell, werden mehr und mehr Eigenschaften des Gehirns zum Muster zukünftiger "intelligenterer" Rechner, in dem Maße eben, wie Forscher lernen, auf was nützliche Intelligenz beruht. So geht auch die Entwicklung vom ewigen Leben auf der Platine, die das Vorderhirn mit seinen Ausflügen in das Hochgeistige favorisierte, hin zur Nachahmung von lebenserhaltenden Eigenschaften des unbewusst arbeitenden Stammhirns. Rechner werden zu Helfern der Hirnforschung und behinderter Menschen und mausern sich zu Haushaltshilfen. So ist in die KI-Forschung Bescheidenheit eingekehrt, eine Bescheidenheit, die angesichts der erstaunlichen Leistungen des Gehirns, die wir auch heute immer noch mehr erahnen als wissen, angebracht ist.

Ernüchterung in der Genieforschung
Im Aufsatz "Brillanz in einer Beule" befasst sich das SPECIAL mit der Genieforschung, die versucht hat, in einer materialistischen Sichtweise außergewöhnliche Begabungen von Menschen sich durch "Gewicht und Form, Windungsmuster und Furchen" und nicht zuletzt durch "Beulen" zu "erklären". Da auch die Genieforschung nur interpretieren kann, was sie da vorfindet, hat sie in ihrer simplen Denkweise oft gerade das gefunden, was sie sucht - damit der Taktik des Gehirns selber folgend, sich der Erwartung gemäße plausible Erklärungen zurecht zu legen, was naturgemäß eine Sackgasse ist, wie es auch im SPECIAL heißt. Am Anfang der Genieforschung stand vor 200 Jahren der österreichische Arzt Franz Joseph Gall, der die Idee gebar, "die Brillanz des Denkers müsse sich in Beulen seines Hirns widerspiegeln. Die Idee war schlicht: Je dicker der Schädel, desto klüger der Mensch." In dieser Tradition der nicht zu unterbietenden Schlichtheit des Schließens steht auch die Untersuchung des Gehirns von Albert Einstein, "der zum Prototyp des Genies schlechthin geworden ist", weshalb die Verfasserin des Artikels, Rafaela v. Bredow, sich mit seiner Nachgeschichte exemplarisch und ausführlich befasst. Wie alles an Einsteins Story ungewöhnlich bis bizarr ist, weil sein Leben und seine Lehren schon lange Objekt der (Wissenschafts-)Politik sind, so bizarr ist auch die Geschichte seines Gehirns. Es heißt: "Der für die Sektion zuständige Pathologe Thomas Harvey hatte das Denkorgan des großen Physikers heimlich mit nach Hause genommen und jahrzehntelang dort aufbewahrt. Erst 40 Jahre später, im Jahr 1995, rief der greise Harvey die kanadische Neurologin Sandra Witelson an: ob sie wohl des Physikers (240) Gehirnbröckchen mit denen Normalsterblicher vergleichen möge." Und prompt fand sie auch die Beule von "wahrer Größe",* die "ausschlaggebend für die Gedankenexperimente (war), die zur Relativitätstheorie geführt haben", was durch alle Medien ging und BILD gleich maßlos "das Jahrtausendgenie Einstein" feiern ließ. Auszüge aus meinen Kommentar zu dieser Art von "Forschung": "Herausforderer Einstein. Eine Zeit und ihr 'Genie'", habe ich unten abgedruckt5, da der Text in der aktuellen Homepage nicht mehr vorliegt. Bei Rafaela v. Bredow heißt es zu Sandra Witelsons Deutung: "Ihre Kollegen überzeugen konnte sie nicht. Mit der Suche nach dem Stoff, aus dem Genies gemacht sind, bewege sie sich 'in dem Fahrwasser der Forscher des 19. Jahrhunderts' urteilt Hagner", ein Wissenschaftshistoriker.* Die Neurowissenschaftlerin Katrin Amunts "ist überzeugt davon, dass alle Versuche, in den Gehirnen hoch Begabter nach besonderen Beulen oder extravaganten Windungen zu gucken, scheitern müssen - weil eine Frage gar nicht geklärt sei: Was überhaupt ist ein Genie?" Zu dieser Frage verweise ich auf meinen angehängten Kommentar, in dem es vor allem um den Zeitgeist geht, der jemand als "Genie" erscheinen lässt, besonders wenn es sich nicht um eine künstlerische Begabung handelt, deren Werk für sich selber spricht. Den Zeitgeist in der Genieforschung hat auch der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner von der eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich im Visier, wenn er sagt: "Vor allem aber gleicht die Elitegehirnforschung einem Wissenschaftskrimi, der zeigt, wie Forscher dem Geniekult der eigenen Zunft frönen - und dabei doch nur die herrschaftlichen Verhältnisse mit ihren angeblich objektiven Befunden zementieren. Die Elitegehirnforschung - mit ihren rassistischen und sexistischen Aspekten, wie Hagner an anderer Stelle zitiert wird - lässt sich nicht trennen von einer Hirnpolitik, die bestehende Ordnungen an der Wissenschaft festmachen will." Aber eben auch in der Wissenschaft selbst, wo interessierte Kreise, vor allem die Physikalisten - nicht nur in der Physik, seit Jahrzehnten bemüht sind, um jeden Preis - was angesichts der jetzt angekurbelten Milliarden Dollar teuren, aber praktisch nutzlosen Gravitationswellen-Forschung6 auch durchaus wörtlich zu nehmen ist -, zu "beweisen", dass Einstein, der Uri Geller des Raumes und der Zeit, Recht hat, selbst wenn das nur anhand seiner "Geniehügel" in einer Art Kaffeesatzleserei an "Gehirnbröckchen" gelingen sollte. Aber niemand muss ihnen darin folgen, wie der hier besprochene Artikel zur Genieforschung zeigt.
*Nachtrag: Hierzu der Wissenschaftsforscher Michael Hagner von der ETH Zürich bei der Besprechung seines Buches von 2004 "Geniale Gehirne" am 24.06.2005 im "Büchermarkt" des Deutschlandfunks (auf www.dradio.de aufgezeichnet): "Was Witelson für die Spur zu Einsteins Genialität hält (die Verbreiterung des unteren Partiallappens), deutet der französische Neuropathologe Oliviero Beau(?) als gravierende Missbildung, die, wenn sie heute bei einem Fötus entdeckt würde, zumindest die Möglichkeit einer Abtreibung ins Spiel brächte." s. auch das genannte Buch Hagners. Die relativ geringe Größe von Einsteins Gehirn (ca. 1.230 Gramm) an der unteren Grenze menschlicher Gehirne und das Fehlen der Zentralfurche Sulcus ist ebenfalls kein Anlass, mit ihm zu protzen.
Nachtrag vom Juni 2006: So vergeblich die Genieforschung bezüglich Einstein war, so erfolgreich ist die Autismusforschung hinsichtlich seiner Person. Weiß man was Asperger-Autismus ausmacht, verschwinden alle die Rätsel, die Einsteins eigenwillig Persönlichkeit und seine Spezielle Relativitätstheorie aufgegeben haben. Versteht man das eine, dann versteht man auch das andere und umgekehrt - ohne Rest. Siehe hierzu den neuen Text (II/15) "Autismus als Forschungsgebiet. Formen des Autismus".

Das Problem der universalen Grammatik
Es hat sich herausgestellt, dass eine Grammatik weder gelernt werden kann, noch gelernt zu werden braucht. Sie muss lediglich geübt werden. Daher hat der Linguist Noam Chomsky 1957 die These aufgestellt, dass dem Menschen eine Universalgrammatik angeboren ist. Diese These wird von den Linguisten daher als ihr zentrales Rätsel bezeichnet. Derek Bickerton spricht in dem Interview "Was ist ein 'Was'?" davon, "dass in unserem Hirn bereits so etwas wie eine Blaupause grammatikalischer Strukturen vorhanden ist", was m.E. aber nichts erklärt, da der Ursprung dieser Strukturen im Dunklen bleibt. Da selbst eine Gruppe einfacher Sprachroboter in ihrem "sozialen Austausch" "eine primitive Form von Grammatik gebaren", wie im ersten Artikel zur "Sprache" "Der Anfang war das Wort" berichtet wird, zeigt, dass dieser Ansatz zu kurz greift, weil er nicht das soziale Umfeld in die Überlegungen einbezieht. Und natürlich müssen da auch noch Millionen freier Neuronen sein, die miteinander kommunizieren können, damit etwas so kompliziertes wie Sprache entsteht. In dem Artikel "Linguistischer Urknall" wird von einer Gruppe taubstummer Kinder in Nicaragua berichtet, die sich selbst ein völlig neues, komplexes System von Gebärden entwickelt haben, mit denen sie sich untereinander verständigen, nachdem man in dem üblichen Unverstand von Behörden und ihrer Diener ihnen zuerst beibringen wollten, mit den Händen zu buchstabieren und Spanisch von den Lippen abzulesen. Aber wie kann man eine Sprache ablesen und buchstabieren, die man nicht kennt? Am Anfang war die Gebärde. "Die Kinder sammelten sie auf und bauten daraus ein Haus", sagt die Linguistin Judy Kegl. "Die ersten tauben Kinder, die Anfang der achtziger Jahre in Managua Sonderschulen besuchten, nutzten eine Sprache, die improvisiert und arm an Regeln war. Trotzdem konstruierten sie ihre Sätze nicht willkürlich. Nomen und Verben wechselten sich regelmäßig ab." "Schon die nachfolgenden Jahrgänge, die sich im Alter von fünf oder sechs Jahren die Zeichensprache der Klassenälteren aneigneten, schufen aus dem kantigen Provisorium eine ausgefeilte Sprache. Nicht nur fügten sie dem Gebärdenvokabular Tausende neuer Zeichen hinzu, sie statteten die Sprache auch mit grammatischen Strukturen aus - Fälle, Zeiten, Klassifikationen." "Die rund 1000 Personen zählende Taubstummengemeinde in Managua gründete derweil eine Gesellschaft für Gehörlose. Taubstumme unterrichten in zwei Schulen. Auf dem Lehrplan steht sogar einen Gehörlosenschrift." "Nach der sechsjährigen Schulausbildung in Managua können die Schüler in ihrer Sprache flüssig schreiben und lesen." Es gibt sogar ein Wörterbuch und eine kleine Bibliothek von Literatur in ihrer Sprache, die "Lenguaje de Signos Nicaragüense" genannt wird. Kommentiert wird dieser linguistische Urknall mit dem schönen Satz: "Das Einzige, dessen es zur Schöpfung einer Sprache bedarf, ist eine hinlänglich große Zahl von Gesprächspartnern." Von intelligenten Gesprächspartnern, wie ich hinzufügen möchte, die ihre geistige Lage erkennen, in der sie stehen. Denn die Grammatik, die so vieles zu bewirken vermag, ist einfach der Spiegel der geistigen Situation, die erfasst werden muss, um mit ihr umgehen zu können. Eine Grammatik wird dadurch universal, dass sie der universalen Lage der Sprechenden gerecht wird.7 Sie ist mitnichten ein Rätsel, wenn man nur den Denkansatz weit genug fasst, bzw. sie ist immer nur jenen ein Rätsel, die in ihrem Physikalismus und Determinismus von der Eigenständigkeit geistiger Leistungen nichts wissen wollen, denen alles materiell begründbar sein muss, um von ihnen akzeptiert zu werden. Sie übersehen dabei, dass der Mensch ein schöpferisches Wesen ist mit vielfältigen kulturellen, zivilisatorischen, technischen und geistigen Leistungen, die weitgehend kein Vorbild haben, die er also aus sich heraus geschaffen hat, und mit denen er sich ebenfalls mit seiner Mitwelt in ein ihm gemäßes Verhältnis setzt. Wollen wir das Wesen des Homo sapiens sapiens verstehen, brauchen wir nicht mit Werkzeugen in seinem Gehirn oder in seinen Genen herumzustochern, sondern brauchen nur unvoreingenommen auf seine vor jedermanns Augen liegenden Schöpfungen zu sehen, so schön oder so schrecklich sie auch sind.

Zwischenruf: Mit was begann Sprache wirklich?
Weil die Taubstummengemeinde von Managua in wenigen Jahren von selbst eine eigene differenzierte Sprache als Gebärdensprache entwickelte, die in einer Gebärdenschrift auch schriftlich vermittelt werden kann, ist natürlich der Gedanke naheliegend zu sagen: am Anfang war die Gebärde. Eine solche Aussage ist gut nachvollziehbar, versuchen doch Menschen ganz allgemein gegenüber Fremden, mit denen sie keine gemeinsame Sprache haben oder die sie nicht hören können, sich auf diese Weise verständlich zu machen. Trotzdem ist die Gebärde nicht der Anfang der Sprache, auch wenn sie, neben einfachen Lauten, sicher Millionen Jahre lang, zumindest seit den Zeiten des Homo erectus, das beste Verständigungsmittel war. Denn immer müssen wir uns fragen, durch was etwas zur Sprache wird - die alles entscheidende Frage, die ich mich nicht erinnern kann, im SPIEGEL SPECIAL gelesen zu haben. In erster Linie schlagen sich Forscher und Redakteure mit Erscheinungen der Sprache herum und erstere verfassen dazu immer gleich ein ganzes Buch, nicht aber über den Sinn von Sprache selbst, weshalb sie viel zu oft kausal statt neuronal argumentieren. Neugierigen Lebewesen kann aber alles Lebendige und Tote zur Sprache werden - nämlich alles, was ihnen Bedeutungen vermittelt. Die Bedeutung ist das Blut der Sprache. Sie wird von Naturwissenschaftlern nicht gern bemüht, weil sie etwas rein Mentales ist. Was aber ist menschliche Sprache ohne den Versuch, mentale Inhalte zu vermitteln, seien es Emotionen oder rein geistige Gehalte? Nichts! Absolut nichts! Am Anfang war also die Bedeutung, auch die der unwillkürlichen Körpersprache, die jedes komplexe Lebewesen unbewusst spricht, während die Gebärde eine absichtsvoll erzeugte Geste ist, die bereits auf ein verständiges Gegenüber setzt. Es waren also die intuitiv erfassten Bedeutungen (ob zutreffend oder nicht) von Objekten, Zuständen, Ereignissen und Haltungen, die zur Sprache drängten. Man könnte aber auch sagen: es waren Ideen, die mitgeteilt werden wollten, gleich wie. Und irgendwann wurde es aufrecht gehenden Zweibeinern mit genügend freier Neuronen auch physiologisch möglich, sich lautlich besser zu differenzieren. Und sei es mit Jodeln. Letztlich setze sich die lautliche Sprache gegenüber der Gebärdensprache durch, einfach weil sie ökonomischer ist. Und was die Generierung von Bedeutungen in der Evolution des Menschlichen so beschleunigt hat wird immer mehr so gesehen, wie es seit 1996 in dieser Homepage unter dem Titel "Die Generierung des Geistigen"8 zu finden ist.9 Im SPIEGEL-Artikel "Der Anfang war das Wort" (im Inhaltsverzeichnis als "Was war das erste Wort des Menschen?" angekündigt, heißt es: "Der amerikanische Anthropologe Stanley Ambrose glaubt (!): Erst kam die Kunstfertigkeit der Finger, dann erst der Zunge. Seiner Theorie zufolge war es gerade das handwerkliche Geschick der menschlichen Urahnen, das "als Wegbereiter für die Evolution der Sprache" diente. Als wichtigen Hinweis wertet Ambrose ein Ergebnis der Hirnforschung: "So wird Sprache von einem Hirnbereich gesteuert, der gleich neben dem Areal für die Feinmotorik der Hand liegt. Aus diesem könnte ein Teil des neuronalen Sprachapparates hervorgegangen sein." Aber die taubstummen Kinder und inzwischen Erwachsenen, nicht nur in Managua, zeigen, wie man auch ohne lautlichen Sprachapparat allein durch Gebärden erfolgreich miteinander kommunizieren kann. Bloß weil wir mühelos so viel schwätzen können, sind wir so auf die gesprochene Sprache fixiert, anderes verstehen wir bestenfalls als einen Behelf, weshalb wir - besonders die Männer - viele für uns wichtige Zeichen übersehen. Aber es ist einfach eine andere, urtümlichere Art mit Hilfe von Symbolen Bedeutungen zu transportieren, was ja der Sinn von Sprache ist.

Eine universelle Theorie aller Sinne
Während Chomsky in materieller Weise die Grammatik der Sprache in Abhängigkeit von allen Menschen gemeinsamen Genen sieht, statt sie als Ausdruck der geistigen Situation des Sprechenden zu verstehen, verficht Conway Morris, Professor für Paläobiologie an der Universität Cambridge in "Sehen ohne Augen" in der Rubrik "Wahrnehmung" die These, intelligente Wesen seien ein zwangsläufiges Produkt der Evolution. Dabei sieht er nicht nur Menschen als intelligente Wesen an, sondern jedes Lebewesen, das sich in seiner Umwelt erfolgreich behaupten kann. Was ihre sehr unterschiedliche Wahrnehmung betrifft, möchte er sie einer Neubewertung unterziehen. "Vielleicht sind die Unterschiede gar nicht so tief greifend wie gedacht, vielleicht sind sie geradezu oberflächlich? Könnte es nicht sein, dass sich die außerordentliche Vielfalt sensorischer Systeme auf ein paar weitgehend unbeachtete Gemeinsamkeiten stützt? Sollte dies stimmen, dann könnte es eine gemeinschaftliche Wesensart offenbaren, nicht nur hier auf Erden, sondern potenziell überall im Universum, wo empfindungsfähiges Leben gedeihen kann." Dazu vergleicht er die Sinnessysteme unterschiedlichster Lebewesen, z.B. von Fledermäusen und Elefantenfischen, die beide im Dunklen jagen, von Mensch und Mücke, die sich von unterschiedlichen Voraussetzungen "auf die gleiche grundsätzliche Lösung hin entwickelt haben", was für ihn "ein Hinweis darauf ist, dass die Sinne denkbar verschiedener Lebewesen dieselbe Welt ergründen." Ist dies erstaunlich? Ich meine nicht, sondern ich halte die grundsätzlich gleiche Lösung als Ausdruck des grundsätzlich gleichen Problems, vor dem jedes Lebewesen steht, ob hier auf der Erde oder an einer beliebigen anderen Stelle des Universums: in einer ihm unbekannten Umwelt zu überleben, sowohl als Individuum, als auch als Art. Dazu müssen weder die Gene noch die (Um-)Welten gleich sein. Weil nur materiell von außen her gedacht, sind das keine echten Erklärungen. Wir müssen einfach lernen zu verstehen, was ein Lebewesen ist und welche Probleme sich daraus für es ergeben, z. B. der Zwang, seinen Stoffwechsel auf Kosten der Mitwelt in Gang zu halten, denn "Leben ist Materie mit der Fähigkeit zur Anverwandlung fremder Strukturen in die eigene", wie ich einmal definiert habe.10 Das gilt für Menschen und Mücken ebenso wie für Viren und Prione. Ich kenne keine umfassendere Definition. Und wenn wir so umfassend denken, werden wir auch das Leben und seine Ausprägungen umfassend verstehen.

Wie neurologisch aus Daten Informationen werden
Die Funktionsweise des Gehirns als eines interpretierenden Organs wird m.E. am besten im Artikel "Hotline zum Himmel" wie folgt beschrieben (Betonung durch Kursivsetzung von mir, Zusätze von mir in [ ])11:

  1. Wahrnehmung über Sinnesorgane. Über Auge, Ohr, Nase, Tast- und Geschmacksorgane dringen Sinnesreize ins Gehirn.
  2. Verarbeitung in den sensorischen Sinnesarealen. Viele Areale des Großhirns sind damit befasst, diese Wahrnehmungen [müsste gemäß 1 "Sinnesreize" heißen] zu analysieren. Visuelle Reize [hier wieder richtig] beispielsweise werden in der Sehrinde im Hinterkopf verarbeitet.
  3. Deutung im Schläfenlappen. Die aufbereiteten Daten werden dann an den Schläfenlappen weitergeleitet, wo ihnen [aufgrund des gespeicherten Wissens] Bedeutungen verliehen werden. Meist gibt es jedoch mehrere Interpretationen.
  4. Filter im Hippocampus. Der Hippocampus wählt eine dieser Deutungen aus; nur sie dringt ins Bewusstsein vor. [Erst jetzt gibt es das, was wir "Wahrnehmung" nennen, die wir in Form von Urteilen erfahren.] Meist entscheidet sich der Hippocampus für die Interpretation, die den Erwartungen des Gehirns am nächsten kommt [z.B.: "das ist ein Haus", "das ist ein Mensch" usw.].
    Gegenstand des Artikels ist allerdings die Entstehung von Illusionen. Darum heißt es in einem weiteren Punkt:
  5. Illusionen durch Abschwächung der Filterfunktionen. Wird der Zensor im Hippocampus, etwas durch Drogen, Trance oder Schlafentzug [oder viel öfters durch überspannte Erwartungen oder einfach durch Unaufmerksamkeit], geschwächt, so lässt er auch weniger wahrscheinliche Deutungen passieren, die dann ins Bewusstsein gelangen. Auf diese Weise könnte es zu Visionen kommen.

Der Aufsatz versucht die Ansätze der neuausgerufenen Neurotheologie darzustellen. Auch wenn das Religiöse oft genug krankhafte Züge hat und zu bedrohlichen Exzessen neigt, wie uns Fernsehbilder fast täglich zeigen, so denke ich doch, dass die Gehirnforschung hier ihre Kompetenz überschreitet. Das Religiöse ist ein wenn auch oft ausgebeutetes Grundbedürfnis eines sich seiner selbst bewusst werdenden Wesens und kann nicht allein mit Entgleisungen einzelner Hirnareale erklärt werden. Hier bedarf es einer höheren, das Ganze bedenkenden Erklärungsebene, deren Notwendigkeit - auch zum Verständnis des Hirns selbst - ich an einigen Beispielen versucht habe deutlich zu machen. Oder wie der Neurophysiologe Detlef Linke in seinem Buch "Das Gehirn"* gleichsinnig schreibt: "Das zusammenfassende Modell der Hirnforschung wird in der jetzigen Phase weniger durch Integration der verschiedenen Puzzle als vielmehr durch die Einnahme einer neuen Erkenntnisperspektive entstehen"*, die für Linke und für mich die Neurophilosophie ist, also die Verbindung von Neurowissenschaften, Kognitionslehre und Philosophie, denn weder kann wirkliches Wissen ohne Weisheit, noch Weisheit ohne Wissen gelingen. So wieder Linke: "Hirnforschung wird Philosophie nicht ersetzen, denn beide werden an einer gerechten Balance der Dinge [besser: unserer Urteile] arbeiten." Nur wenn der Mensch sich um höchste Weisheit bemüht, kann er vielleicht der sehr alten Weisheit des Gehirns zum Lösen des Überlebensproblems gerecht werden. Es ist immer ein Fehler, sein Gegenüber zu unterschätzen.
*Taschenbuch bei C.H.Beck Reihe WISSEN, 100 S., € 7,90

Lob der Redaktion
Nicht nur über Conway Morris Aufsatz "Sehen ohne Augen" und die anderen hier genannten könnte man immer weiter berichten. Aber das sind ja nur 8 von insgesamt 44 Titeln in 9 Rubriken (einschl. den Literaturhinweisen) auf 146 Seiten - und das alles zu nur 5 Euro. Man merkt dem Heft an, dass es von erfahrenen Redakteuren sorgfältig zusammengestellt wurde. Redakteure müssen sich aber auch immer ein wenig dumm stellen, dürfen höchstens witzig-provokante Fragen stellen, damit sie die Gunst eines Interviews einer Kapazität erhalten. Keineswegs dürfen sie zu erkennen geben, dass sie vielleicht mehr Durchblick haben als der sich in seiner Forschung oft genug im Kreise bewegende Interviewte, der am liebsten das findet, was er sucht. Daher habe ich hier weitergehende Fragen nachgeschoben, die den Leser anregen sollen, sich selbst kritisch mit dem Stand der Forschung auseinanderzusetzen. Aber manchmal ist es auch erforderlich, dass ein Redakteur als Außenstehender auf massive Missbräuche selbst aufmerksam machen muss, weil ja die Fachleute nicht als Nestbeschmutzer dastehen möchten. Der SPIEGEL-Redakteur Jörgen Blech berichtet als Verfasser des Bestsellers "Die Krankheitserfinder - Wie wir zu Patienten gemacht werden" (S. Fischer Verlag; 256 Seiten; 17,90 Euro) im Essay "Ganz normaler Irrsinn" über den Skandal der Psychiatrie, die infolge ihrer Definitionshoheit oft genug nach kommerziellen Gesichtspunkten definiert, welche Auffälligkeit eine behandlungswürdige Krankheit ist. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist auf diese Weise in den USA die Zahl der diagnostizierbaren und folglich abrechenbaren "Krankheiten" von 26 auf 395 gestiegen. Viele der "neuen Leiden der Seele" sind in Wahrheit einfach Wechselfälle des normalen Lebens. Niemand kann heute mehr sicher sein, nicht als Kranker angesehen zu werden. Gibt sich jemand besonders aktiv und lebensbejahend, könnte es sein, dass er gerade deshalb als depressiv und behandlungsbedürftig eingestuft wird! Dabei ist dieses "Leiden" die reine Erfindung, die von einer PR-Agentur in Oberursel etabliert wurde, die es nach der österreichischen Kaiserin Elisabeth "Sisi-Syndrom" genannt hat. "Die Zahl der angeblich am Sisi-Syndrom erkrankten Deutschen wurde unterdes auf drei Millionen beziffert." Also aufgepasst, wenn Sie zu lebensfroh zum Arzt gehen, dass Sie beim Psychiater nicht als "Sisi" wieder herauskommen. So gibt das Heft Einblick in viele Bereiche der Hirnforschung, in Tatsachen und Illusionen, in gesunde und kranke Gehirne, zu Menschen, die mit einem zu wenig oder auch mit einem zuviel an Wahrnehmung leben müssen, zu Helden und Schurken, klärt auf und warnt vor Entwicklungen, die uns alle betreffen können, zeigt aber auch dem kritisch Denkenden die Grenzen neuronaler Erklärungsmuster. Man sollte es lesen und sich anregen lassen, vielleicht auch zu manch weiterführenden Buch des Literaturnachweises.

zum Weiterlesen auf Seiten von mir und Abdruck "Herausforderer Einstein. Eine Zeit und ihr 'Genie'"
1 s. (II/7) "Das Gehirn und sein Ich. Eine notwendige Klärung", die sich u.a. mit der Zwischenbilanz des SPIEGELS in Heft 16/1996 "Die Suche nach dem Ich" auseinandersetzt.
2 s. (II/6) Buchbesprechung Ernst Pöppel, Anna-Lydia Edingshaus/Geheimnisvoller Kosmos Gehirn
3 s. "Das Geheimnis der Freiheit", Text [14] in ZEIT UND SEIN www.helmut-hille-philosophie.de
4 s. "Gehirn und KI", Text [15] in ZEIT UND SEIN www.helmut-hille-philosophie.de
5 In meinem Text "Herausforderer Einstein. Eine Zeit und ihr 'Genie'" heißt es u.a. (ehemals Datei (I/B8), hier abgedruckt, da inzwischen dort entfernt):
"Da auch die gerade (1999) in Kanada, an der McMaster Universität in Hamilton (Bundesstaat Ontario) vorgenommene erneute Untersuchung seines Gehirns ihm "Genie" und "mathematisches Denken" bescheinigt, welches "Probleme anders angeht", was ja nicht automatisch "besser" heißt, ist doch darauf hinzuweisen, daß es in der Wissenschaft nicht um "geniale" mathematische Spekulationen gehen kann, sondern um eine von großem Sachverstand getragene lautere und kritische Analyse der Fakten und ihrer gewohnten Deutung, die mehr der differenzierenden Weisheit eines nüchternen Verstandes als den assoziativen Eskapaden eines "Genies" mit unzureichender Bodenhaftung bedarf. Das von Dr. Sandra Witelson und ihrem Team festgestellte Fehlen "einer sonst üblichen Furche", lt. BILD die Zentralfurche "Sulcus", also nicht irgendeiner, müßte m.E. eher als Ausweis einer archaischeren Struktur interpretiere werden, die gut mit Einsteins Aussage korrespondiert, daß bei seinem Denken "Worte dabei keine Rolle spielen" und er eher "ein assoziatives Spiel mit mehr oder weniger klaren Bildern" treibt (SZ). Besser kann man mangelnde Rationalität nicht beschreiben. Selbst wenn nicht die Rechtfertigung Einsteinscher Theorien und/oder seiner (und damit auch eigener) Gottesvorstellung das Motiv der Untersuchung war, so war es doch sein "Genie", das es "zu beweisen" und aller Welt erneut zu verkünden galt, nachdem er noch immer nicht unumstritten ist und sich die Beweise häufen, daß seine aus dem Bauch heraus verkündeten Thesen nicht stimmen.
     Bereits 1985 kam - auch eine Frau - die Neurologin Marion Diamond von der Universität Berkeley, zu ähnlichen Erkenntnissen. Da fällt mir unwillkürlich Graf Hermann Keyserling ein, der sich einmal wunderte, warum Frauen in Diskussionen immer das schwächste Argument aufgreifen und verteidigen. Er meinte dann, es geschähe aus einem instinktiven Mitleid mit dem in Bedrängnis Geratenen, der ihrer Fürsorge bedürfe. Denn es sind ja gerade die Falten eines Gehirns, die zur Vergrößerung seiner Oberfläche und zu seiner Ausdifferenzierung entscheidend beitragen, so daß das Fehlen einer sonst vorhandenen zentralen Furche zwar ein Merkmal für Besonderheit, aber keines für Höherentwicklung, sondern eher das eines uns offensichtlich faszinierenden Atavismus sein kann (aber wiederum auch nicht sein muß). Laut BILD würde dieses (richtig erkannte) Defizit durch "Genie-Hügel" ausgeglichen. Es gibt also jetzt nicht nur "Idiotenhügel" für Schianfänger, sondern auch eigens erfundene "Geniehügel", die wahrscheinlich in keinem neurologischen Lehrbuch stehen. Übereinstimmend dagegen wird von den Zeitungen berichtet, daß sein Lobulus parietalis, die "Inneren Parietallappen, in dem mathematisches Denken, räumliche Wahrnehmung und Bewegungsvorstellungen verortet werden, bei Einstein rund 15 Prozent größer als bei 91 Vergleichshirnen mit durchschnittlicher Intelligenz war" (DIE ZEIT, 24.6.99), was wohl seinen Hang zu Gedankenexperimenten erklärt, wie ich hinzufüge. Aber wer weiß, zu welchen Schlußfolgerungen die "Forscher" gekommen wären, wenn man ihnen gesagt hätte, daß es sich um das Gehirn des Bahnwärters Thiel oder eines gänzlich Unbekannten handeln würde. Dann hätte man wohl, in ebenso simpler Logik, die fehlende Faltung als "Beweis" großer Einfalt gedeutet. Doch da "es keine direkte Abhängigkeit zwischen Gehirn und Intelligenz gibt" (Leslie Aiello, Paläoanthropologin, London, Koordinatorin der Wanderausstellung "4 Millionen Jahre Mensch"), kommt der unverbindlichere Geniebegriff der euphorischen Deutung der Fakten auch noch sehr entgegen. Aber nach Kant ist "Genie die angeborene Gemütslage, durch welche die Natur nicht der Wissenschaft, sondern der (schönen) Kunst die Regel vorschreibt" (Kritik der Urteilskraft).
     Unbeeindruckt von solchen Richtigstellungen werden Einsteingläubige mit Sicherheit das Ergebnis der Vermessung und seine wohlmeinende Interpretation freudig begrüßen und sich in ihrer Überzeugung bestärkt sehen, daß Kritiker grundsätzlich inkompetent sind, weshalb ihre (ihnen viel zu rationalen) Argumente weiterhin ignoriert werden dürfen, besonders insoweit sie nicht widerlegt werden können. Bei einer solchen Logik müßten dann in Zukunft - anstelle rationaler Argumente - überhaupt Hirnvermessungen einen Theorienstreit entscheiden. Schade oder zum Glück - wer weiß -, daß uns keine Theorien oder Mythen der Neandertaler, der letzten archaischen Menschen, überliefert sind - die hatten nämlich die größten und breitesten Gehirne aller Zeiten, rundherum voller "Genie-Hügel", fast 200 ccm mehr als der moderne Mensch. Und sind sie etwa gerade deshalb, wegen ihrer eventuell noch kühneren Theorien/Mythen, ausgestorben - die sie sehr wahrscheinlich zwangsläufig ebenfalls als "ein assoziatives Spiel mit mehr oder weniger klaren Bildern" pflegten, in dem "Worte keine Rolle spielen", schon weil ihnen wahrscheinlich die sprachlichen Mittel fehlten, so daß sich ihre Vorstellungen notgedrungen der rationalen Kontrolle entzogen?
     Steht uns jetzt das gleiche Schicksal bevor, weil wir so für das "Genialische" schwärmen, statt uns mit aller Kraft um eben diese heute mehr denn je notwendige rationale Kontrolle unserer Vorstellungen, Antriebe und Handlungen zu bemühen? Haben nicht gerade auch die Wissenschaftler die Verpflichtung "für Freiheit, Toleranz, Wahrhaftigkeit und Würde in der Wissenschaft einzutreten und sich dessen bewußt zu sein, daß die in der Wissenschaft Tätigen für die Gestaltung des gesamten menschlichen Lebens in besonders hohem Maße verantwortlich sind?" (§4 der DPG-Satzung) Mit einer Berufung auf das Genialische eines Theorienschöpfers, das man sich aus 240 Schnipseln seines Gehirns in einer Art Kaffeesatzleserei herausdeutet, würden sie dieser hohen öffentlichen Verantwortung ganz bestimmt nicht gerecht." Resümee (nachgetragen): "Nichts ist schädlicher einer guten Einsicht in die Cultur, als den Genius und sonst nichts gelten zu lassen. Das ist eine subversive Denkart, bei der alles Arbeiten für die Cultur aufhören muß." Friedrich Nietzsche (1844-1900) - aus seinem Nachlass Frühling-Sommer 1878 (s. auch (I/B17) "Der Untergang der abendländischen Denkkultur")
6 s. (I/B5) "Gedanken zur Gravitation und zum Nachweis von Gravitationswellen"
7 s. (II/8) "Ursprung und Inhalt der Grammatik"
8 s. (III/1a) "Die Generierung des Geistigen"
9 s. (L9)/März "Am Anfang war das Wort - stimmt das?"
10 s. (III/2) "Die Genese des Lebens"
11 s. u.a. (II/7) "Das Gehirn und sein Ich. Eine notwendige Klärung"
    sowie (II/7a) Was ist und wie entsteht Information? oder Die Rolle des Beobachters


Jürgen Habermas/Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Erweiterte Ausgabe
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1723, Frankfurt am Main 1999 und 2004, 368 Seiten, € 13,-

Dieser Aufsatz wurde auf Einladung in der Zeitschrift WECHSELWIRUNG Anfang 2005 unter dem Titel "Philosophie ohne Wahrheit?" veröffentlicht (Würdigung s. unten). Einleitend heißt es dort von der Redaktion: "In folgendem Beitrag nimmt der Autor Helmut Hille den kürzlich veröffentlichten Sammelband der Philosophischen Aufsätze von Jürgen Habermas unter die Lupe. Er beschäftigt sich mit der Frage, ob es eine Philosophie ohne einen Anspruch auf Wahrheit geben kann."

Meine Vorbemerkung
Die Meldung, dass der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas 2004 in Japan für sein Lebenswerk mit dem Kyoto-Preis ausgezeichnet wurde, neben dem Nobelpreis weltweit eine der höchsten Auszeichnungen für Verdienste um Wissenschaft und Kultur, war mir Anlass, mich mit seiner Auffassung von Wahrheit zu befassen. Wodurch einer die Wahrheit von Aussagen als begründet ansieht, zeigt für mich, wes Geistes Kind er ist und wie tief und realistisch er das geistige Vermögen von Menschen erfasst und was seine übrigen Thesen in diesem Lichte wert sein können. Gegenstand meiner Betrachtung ist daher das Titelthema des gerade (2004) neu aufgelegten Buches "Wahrheit und Rechtfertigung", das auch Titel des besprochenen Aufsatzes ist, was seine zentrale Bedeutung für Habermas zeigt.

III WAHRHEIT IN DISKURS UND LEBENSWELT
5. Wahrheit und Rechtfertigung. Zu Richard Rortys pragmatischer Wende
 (Seite 230 - 270)

Richard Rorty ließ sich (lt. Habermas) in seiner Jugend "von Plato, Aristoteles und Thomas begeistern." Nachdem er des absolut "Guten im Schönem" nicht ansichtig werden konnte, wandte er sich darob enttäuscht dem Pragmatismus John Deweys zu, der lehrte, "daß sich hinter der Realität des Alltags keine höhere Wirklichkeit, kein ekstatisch zu erschließendes Ansichseiendes verbirgt." Dann wurde Rorty ein Anhänger der analytischen Philosophie. Jedoch: "Rorty gewinnt aus der sprachphilosophischen Wende ein nicht-realistisches Verständnis von Erkenntnis", das er mit "Ironie" bewältigt. Habermas, der nicht bereit ist, den Realismus gänzlich aufzugeben, setzt sich daher mit Rortys Argumenten auseinander, die seines Erachtens zu einem "Abschied von Philosophie überhaupt" führen würden, jedenfalls von der, was sie für Habermas ist. "Auf diesem Wege entwickle ich eine Alternative zu jener Liquidierung unbedingter Wahrheitsansprüche." Sehen wir uns also an, wohin Habermas' Rettungsversuch "unbedingter Wahrheitsansprüche" führt.

Erstaunlich ist dabei die Einsicht, "daß wir den sprachlichen Ausdruck als Medium der Darstellung und Kommunikation von Wissen nicht hintergehen können. Es gibt keine uninterpretierten Erfahrungen." Doch die Aufweichung folgt auf dem Fuß, wenn von der Wahrheit als "eine unverlierbare Eigenschaft" oder verräterisch von "kommunizierten Tatsachen" (statt Aussagen) die Rede ist. Doch dann heißt es wieder m.E. richtig: "Erst die linguistische Wende kann deshalb mit dem Mentalismus auch das Erkenntnismodell der Widerspiegelung der Natur überwinden." Die Sprache bildet nämlich nicht die Welt sondern unseren Umgang mit der erlebten Welt ab, was eigentlich ganz selbstverständlich ist, denn nur so macht Sprache als Mittel der Verständigung Sinn. "Für Rorty ist jede Art der Repräsentation von etwas in der objektiven Welt eine gefährliche Illusion." "Wahrheiten" gibt es nur im Kontext der Sprechenden, weshalb Rorty "den Kontextualismus als notwendige Konsequenz aus einer vollendeten linguistischen Wende betrachtet." "Rorty glaubt, daß sich die linguistische Wende konsequent nur in Form einer Vernunftkritik durchführen läßt, die aus der Philosophie als solcher hinausführt." Richtig, aber nur aus der überkommenen Art des Philosophierens, die eine Dichotomie von Sprache und Welt, von Aussage und Gegenstand, von Subjekt und Objekt usw. stillschweigend voraussetzt und "die Beziehung zwischen den Gliedern dieser Dichotomien zu klären versucht." (Mitterer - s. die Besprechung seines Buches "Das Jenseits der Philosophie" auf (II/3)

So zieht sich bei Habermas die Klage über die durch den Nominalismus ihrer Objektivität beraubten Sprache und der abhanden gekommenen Wahrheit hin und ein Sehnen "zu wahren Aussagen, die zu den Tatsachen passen" ist deutlich erkennbar. Auch werden "wahre Meinungen" für möglich gehalten. Dazwischen aber immer wieder die ernüchternde Einsicht, wie die, daß "wir nicht aus dem Bannkreis unserer Sprache ausbrechen können." Doch die Hoffnung nach einem außersprachlichen Ausweg aus dieser Situation stirbt zuletzt. Dadurch übersieht Habermas, das Potential selbstevidenter Sätze, das m.E. als erster Parmenides aufgezeigt hat, der dazu eine namenlose höchste Göttin bemühte, die ihm lehrte, daß "Seiendes ist (war und wird immer sein)", auch wenn es sich durch Mischung und Entmischung der Glieder immer wieder wandelt. Was sagt heute der oberste Satz der Physik von der Erhaltung der Energie anderes? Erhalt ist eine Selbst-Verständlichkeit, weshalb die Sätze von der Erhaltung des Seins und der Erhaltung der Energie die obersten sind, die keiner weiteren Begründung bedürfen und zugänglich sind. Es ist also Habermas zu widersprechen wenn er schreibt: "Weil wir unsere Sätze mit nichts konfrontieren können, was nicht selber schon sprachlich imprägniert ist, lassen sich keine Basisaussagen auszeichnen, die in der Weise privilegiert wären, daß sie sich von selbst legitimieren und als Grundlage einer linearen Begründungskette dienen können." Es gibt diese bewährten Selbst-Verständlichkeiten, auch in der Wissenschaft, und sie sind weder dogmatische Behauptungen, noch Tautologien, wie sie gern mißverstanden werden, noch "absolute Wahrheiten", sondern "nur" vernünftige Wahrheiten und als solche ihre Grenzen suchend. Und mehr als vernünftige Wahrheiten von einem Vernunftwesen zu verlangen ist eben unvernünftig. Daher sieht Rorty, der brave Mann, ganz klar und Habermas versucht das in seiner unstillbaren Sehnsucht nach "Wahrheit als eine unverlierbare Eigenschaft von Aussagen" gegen besseres Wissen immer wieder in Frage zu stellen: "daß wir nicht durch Heraustreten aus unserer Sprache und unserer Meinungen zu einem, vom Kriterium der Kohärenz unserer Behauptungen unabhängigen Testkriterium gelangen können." Forscher können oft nicht glauben was sie wissen und versuchen deshalb ihr Wissen so zu relativieren, daß es scheinbar zu ihren Erwartungen (und/oder denen ihrer Zielgruppe) paßt - man will ja partout nicht klüger werden - wie ich bereits an mehreren hier publizierten Beispielen gezeigt habe. So auch Habermas.

Habermas ist sich daher sicher, "daß wir mit der Wahrheit von Aussagen einen unbedingten, über alle verfügbaren Evidenzen hinausweisenden Anspruch verbinden." Diese Forderung beweist für mich nur ein immer unzeitgemäßer werdendes Anspruchsdenken, als hätte die Welt gegenüber dem Menschen eine Bringschuld, beweist aber noch lange nicht, daß ein solcher Anspruch begründet ist. Daß zu seiner Erfüllung seit den Tagen Platos immer wieder neue Theorien zerschlissen werden, zeigt doch wie unrealistisch er ist. Da sind Naturwissenschaftler aus schmerzlicher Erfahrung schon vorsichtiger und sprechen lieber von Modellen, mit denen sie arbeiten. Die "Zugänglichkeit der Welt", um die es Habermas geht, wird uns ja nicht dadurch gegeben, daß uns die Dinge sagen, was sie sind, was jene materialistischen Reduktionisten glauben, welche die schöpferischen Fähigkeiten des Geistes und seine Eigenständigkeit verkennen, sondern dadurch, daß wir uns nachvollziehbare Eigenschaften, z.B. in Form physikalischer Größen, an sie herantragen und ausprobieren, inwieweit sie sich bewähren. Wahr ist für den Wissenschaftler das, was sich bewährt. Doch wie die Quantenphysik zeigt, können wir nicht nur nicht hinter die durch Messungen sich ergebenden Eigenschaften sehen, sondern ist es auch falsch, im Unbestimmten Eigenschaften anzunehmen, die sich erst durch Bestimmung ergeben. Oder wie es Zeilinger in seinem Buch zur neuen Welt der Quantenphysik ausdrückt: "Wir haben gesehen, dass die übliche Sicht, die Welt besäße ihre Eigenschaften, unabhängig von uns und unabhängig von der Beobachtung, so nicht stimmen kann." (s. meine Buchbesprechung (I/B13). Die Wahrheitsfrage stellt sich beim Messen nur in Bezug auf die ermittelten Werte, weil das Fälschen solcher Werte durch Forschende gar nicht so selten ist, wie einige Skandale zeigen, die ja nur die Spitze des Eisbergs sind. Leider ist es ein Kennzeichen theoretischer Philosophen, daß sie sich nicht um die Ergebnisse der Naturwissenschaften, von der Quantenphysik bis zur Hirnforschung, ernstlich kümmern und sie in ihre Überlegungen einbeziehen oder gar einen Dialog mit den Wissenschaftlern führen. Daß der Mensch (aber nicht nur er) zwei Hirnhälften mit unterschiedlichen Zuständigkeiten besitzt, deren Interaktivität sein Denken spiegelt (hier ist das Wort vom Spiegel angebracht) wird von ihnen überhaupt nicht zur Kenntnis genommen.

Welche "Lösung" seines Wahrheitsproblems bietet nun Habermas an? Er wird ja nicht beim Räsonieren über eine verlorene Illusion bleiben wollen, ist doch die Geschichte der Philosophie, die er vertritt, der Versuch, die Wahrheitsillusion mehr oder weniger geschickt zu rechtfertigen. Daher geht bei Habermas das Abwägen vieler im Umlauf befindlicher Wahrheitsthesen immer weiter und endet mit einer kritischen Auseinandersetzung von Rortys sicher fragwürdigen Soziologisierung der Rechtfertigungspraxis durch die Suche nach einen immer größer und heterogener werdenden Kreis von Zustimmenden. Diese Ersatzvornahme Rortys geht auf seine richtige Einsicht zurück, dass es im Dialog nur Rechtfertigung gibt, aus der nichts für deren Wahrheit folgt, weshalb der Wahrheitsbegriff überflüssig und abzuschaffen ist, wie schon Mitterer vorschlug.

Was setzt nun Habermas dagegen, um den Wahrheitsbegriff doch noch zu retten? Ich denke, es ist dieser einzige Satz über die Verschränkung von Lebens- und Diskurswelt: "Allein die Verschränkung von zwei verschiedenen pragmatischen Rollen, die der janusgesichtige Wahrheitsbegriff in Handlungs-Zusammenhängen und Diskursen spielt, kann erklären, warum eine in unserem Kontext gelungene Rechtfertigung für die kontextunabhängige Wahrheit der gerechtfertigten Meinung spricht." In der Tat werden von Habermas hier zwei signifikante Kriterien zusammengeführt und bilden ein starkes Gespann. Solange wir uns mit ihm orientieren und die "gerechtfertigten Meinungen" nicht sakrosankt machen sondern erproben, wie weit sie sich bewähren, um sie ggf. revidieren zu können, ist es sicherlich hilfreich. Doch eine zur Wahrheit erklärte Meinung lädt die Menschen in ihrem Machtwillen geradezu ein, keine andere Meinung und Praxis zu dulden.

Für mich ist die Wahrheit ein zielführendes Kriterium des Geistes zur Herstellung eines Gleichgewichts zwischen dem implizit Gewussten der rechten Hirnhemisphäre und dem explizit Gesagten der linken Hirnhemisphäre. Die Hemisphärenorganisation des Gehirns ist das Zeichen dafür, dass Lebewesen im Dialog mit sich selbst stehende selbstreferentielle Systeme sind.* Geistig können wir nur mit unserer geistigen Welt umgehen, was es endlich zu begreifen und zu respektieren gilt. Alles andere halte ich mit Rorty für eine Illusion. Daher sehe ich bei Habermas Handlungsbedarf, der zwar die Gefangenschaft des Geistes in der Sprache richtig erkennt, dies jedoch einfach nicht glauben will und so wider besseren Wissens die "kontextunabhängige Wahrheit" einer "gerechtfertigten Meinung" für möglich hält. Als mündige und weltoffene Bürger sollten wir jedoch unsere inhaltlichen Überzeugungen ohne jede Ängstlichkeit immer unter Revisionsvorbehalt stellen können, wollen wir nicht die Knechte sondern die Herren unserer Meinungen sein - sind und bleiben doch alle geistigen Wahrheiten Wahrheiten aus zweiter Hand. Darüber habe ich bei Habermas nichts gelesen.
*Satz August 2010 nachträglich eingefügt
Wegen der vielen Zitate in alter Rechtschreibung die ganze Buchbesprechung Habermas in alter Rechtschreibung, soweit nicht bei neuer Rechtschreibung zitiert.

© HILLE 1998-2005 (gilt für sämtliche Buchbesprechungen dieser Seite)


Die Joachim Koch Seite

Die Veröffentlichung betreffend und Würdigung des Autors Helmut Hille durch Dr. Joachim Koch
Meine Buchbesprechung zu Habermas wurde durch die Redaktion teilweise anders gegliedert und mit Zwischentiteln veröffentlicht in der Zeitschrift "Wechselwirkung" Zeitschrift für "Wissenschaft und vernetztes Denken", Redaktion Prof. Dr. Peter Rosetti NL, Doppelausgabe Nr. 129/130, 26. Jg., 2004/2005, S.102-105 unter dem Titel "Philosophie ohne Wahrheit?" Die Veröffentlichung war verbunden mit einer ganzseitigen Vorstellung und Würdigung des Autors durch denn Philosophen Dr. Joachim Koch, Herausgeber von www.philosophers-today.com ("der Branchenführer"), der als Redakteur der Philosophieseite von "Wechselwirkung" mich zur Veröffentlichung eines Textes eingeladen hatte. In seinem ganzseitigen Kommentar (s. unten "Mein Kommentar") schreibt er u.a.: "Ich habe mich bei meiner Vorstellung von Gegenwartsdenkern aus mehreren Gründen bewusst für ihn entschieden. Helmut Hille versteht es nicht nur, seine Texte in seltener Klarheit zu verfassen; er gehört auch zu den Philosophen, die trotz ihres Alters und ihrer späten Berufung einen ernst zu nehmenden Beitrag zum geistigen Geschehen leisten." - Nach einer Angabe in seiner Biographie auf www.philosophers-today.com wäre Dr. Joachim Koch 2008 in Köln im Alter von 54 Jahren verstorben, lt. Wikipedia an einem langjährigen Krebsleiden. Sein früher Tod hat mich schmerzlich berührt. Ich verliere mit ihm einen Fürsprecher, der den Durchblick hatte. - Anschließend der Kommentar von Dr. Koch im Original - erst nach ca. 10 Jahren am 17.07.2014 gescannt und ins Netz gestellt. Neu ist ferner die Wiedergabe der Kochschen Einleitung (oben) und hier anschließend die von Dr. Koch gewählten Zwischentitel (fett), die einen guten Überblick über meinen Text geben: Habermas Rettungsversuch "unbedingter Wahrheitsansprüche"  -  Die Sprache bildet nicht die Welt sondern unseren Umgang mit ihr ab  -  Zur Wahrheit erklärte Meinung: Keine andere Meinung wird geduldet  -  Wie versucht Habermas den Wahrheitsbegriff doch noch zu retten?  -  Was ist die Wahrheit für mich? - Mein Resümee: Von einem Vernunftwesen mehr als vernünftige Wahrheiten zu erwarten ist unvernünftig! Lieber Herr Habermas, wo Sie doch immer so vernünftig sein wollen: was ist daran falsch und was gibt es daran nicht zu verstehen???

Im Anschluss an meinen Text finden sich noch folgende zwei Hinweise der Redaktion zu meiner Person und Arbeit:

Helmut Hille, geb. 1928, Ingenieur, studierte nach seiner Pensionierung Philosophie und schreibt heute Texte "an der Schnittstelle von Philosophie und Physik, Kosmologie, Gehirnforschung, Biologie und Evolution".

Weitere Texte zu Helmut Hille unter www.helmut-hille.de, www.helmut-hille-philosophie.de sowie die zur Themenstellung sehr gut passende Seite über den Klagenfurter Philosophen Josef Mitterer (www.helmut-hille.de/mitterer.html).

Die nächste Seite füllt der hier anschließende Kommentar:

zur Buchbesprechung Habermas
zu Helmut Hille auf www.philosophers-today.com/  - s. unten
zu Dr. Joachim Koch auf www.philosophers-today.com/  - s. unten
Bei einem Test der beiden Adressen auf >philosophers-today< am 07.03.2021 kam es zu keinem Zugriff.
Trotz seines Todes im Jahr 2008 war seine Seite noch über ein jahrzehntlang erreichbar. Mit einer Beendigung musste gerechnet werden.
Es gibt jetzt zwar wieder eine Seite >philosophers-today<, die jedoch mit der Seite von Joachim Koch nichts zu tun hat.
Zur Person Joachim Koch s. Wikipedia (ausführlich)


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