Gastbeitrag

Das Natürliche des Nichtverstehens


veröffentlicht in der philosophischen Zeitschrift "Aufklärung und Kritik" 1/1997

Millionen sind beinahe täglich Zeuge, wenn während der elektronisch-medialen Nachrichten ein bestimmter Sachverhalt von Regierung und Opposition in oft völlig entgegengesetzter Weise interpretiert werden. Beide Interpretationen sind in der Regel jeweils in sich schlüssig. Ein innerlich nicht festgelegter Hörer kann spontan nicht entscheiden, welche der beiden Interpretationen richtig ist oder der Wahrheit am nächsten kommt. Einem innerlich vorgeprägten Hörer fällt jedoch diese Entscheidung nicht schwer. Er eignet sich mühelos spontan die eine oder andere Interpretation als Wahrheit an.

Robert Musil formulierte einen solchen Tatbestand wie folgt /1/: "Es gibt Wahrheiten, aber keine Wahrheit" und er fügte spielerisch hinzu :" Ich kann ganz gut zwei völlig entgegengesetzte Dinge behaupten und in beiden Fällen recht haben".

Paul Watzlawick /2/ verwendet im Zusammenhang mit dieser Problematik nicht den Begriff der Wahrheit sondern den der Wirklichkeit und er unterscheidet die Wirklichkeit 1. und 2. Art. Die Wirklichkeit 1. Art ist beispielsweise der zahlenmäßige Ausgang einer Wahl, also ein objektiv feststellbaren Sach- oder Zahlenverhalt. Die Interpretation dieses Wahlergebnisses kann jedoch sehr unterschiedlich sein: darin kommen die Wirklichkeiten 2. Art zum Vorschein.

Wie kommt es nun zu den oben angesprochenen verschiedenen Interpretationen, welche die Qualität der Bedeutungen annehmen, die als Wahrheiten empfunden werden oder auch Wirklichkeiten 2. Art genannt werden?

Für die Genese oder Findung der persönlichen Deutungen von Fakten und Daten, also einer Meinung, eines Schlusses oder eines Urteils - also der persönlichen "Wahrheiten" - scheinen folgende Umstände bestimmend zu sein :

1) die bei jedem Menschen andere Denkstruktur aufgrund der Vorstruktur und des Vorhorizontes /11/ verbunden mit seinem Wissen mit Vorurteilen /6/, die spezifische Sensibilität sowie die Interessenlage aufgrund des Selbstkonzepts /8/ - kurz DSI. Die hier genannten speziellen Eigenschaften beeinflussen sich gegenseitig.

2) der Umstand, ob alle einschlägigen existierenden Fakten zur Wahrheitsfindung herangezogen worden sind.

zu 1) Der Hilfsbegriff der DSI soll die jedem Menschen eigentümlichen Kenntnisse und Veranlagung im Bereich der linken und rechten Gehirnhälfte erfassen: der sezierende Intellekt und die integrierenden Gefühle - genetisch und soziologisch geprägt - wirken bei der persönlichen Wahrheitsfindung /4/ zusammen. Die DSI ist eine der DNS prinzipiell ähnliche Begriffsbildung.

Ein simples Beispiel unterschiedlicher Denkstruktur: ein halbvolles Glas kann auch als halbleer wahrgenommen werden! Jede Kultur entwickelt bestimmte Denk- und Sprachräume, denen der Einzelne unterworfen ist. Der "Geist" in Goethes Faust trifft das Problem: " Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir !"

Folgendes Beispiel soll diese wichtigen innermenschlichen Vorgänge erläutern /9/: Jede Landschaft ist zugleich das Spiegelbild der Vorurteile, Kenntnisse und Ideen, die der Betrachter in sie hineinlegt. Auch seiner Augenblicksempfindungen. Zunächst ist sie nur Terrain, regellos bestückt mit Blumen, Flußläufen, Hecken, öden Partien, Abhängen oder Erhebungen. Aber unmerklich ordnet sich das Durcheinander, gewinnt Umriß, Charakter und nimmt schließlich die Gestalt einer idealen Landschaft an - ihrer heroischen, pastoralen oder romantischen Spielart. Man fragt sich, welchen Anteil die reine Wahrnehmung, ohne alles Vorwissen, an dem entstehenden Bild hat.

Die DSI soll die Fähigkeit jedes Menschen erfassen, Strukturen und Vorgänge der Außenwelt in die Eigenwelt zu verwandeln.

zu 2) Sicherlich ist es meist mühsam und nicht selten unmöglich, alle einschlägigen Fakten (Daten) zur Kenntnis zu erhalten. Oft werden jedoch Fakten bewußt oder infolge innerer Abwehrmechanismen ausgeschlossen - es findet also eine bewußte oder unbewußte Faktenselektion statt. Diese Vorgänge hängen sicherlich mit der Eigenart der jeweiligen DSI zusammen.

Versuchen wir mittels eines Bildes der Wirkungsfolge (Bild 1) die kausalen Verknüpfungen darzustellen. Hierbei verwenden wir möglichst viele einschlägige Begriffe, um die hier gebrauchten einzelnen Positionen sprachlich zu umschreiben. Diese Darstellung setzt sich zusammen aus der Außenwelt, der Zwischenwelt und der menschlichen Innenwelt. Die Zwischenwelt ist ohne Begriffe und Symbole der Innenwelt nicht denkbar. Hier berühren sich Außenwelt und Innenwelt. Zwischen den Positionen 4 und 3 findet eine Rückkopplung R statt. So verändert sich die Außenwelt Position 1 zur Endposition 6 der menschlichen Innenwelt.

Für möglichst treffende Wahrheitsfindung ist unabdingbar, daß alle relevanten Fakten bei der Ergebnisfindung herangezogen werden (also keine Faktenselektion !). Gegen diese holistische Forderung wird oft deshalb verstoßen, weil bestimmte Fakten unerträglich sind. Dann tritt Verdrängung ein. Das klassische Beispiel bei gläubigen Christen ist die Vorstellung des allmächtigen und zugleich allgütigen Gottes - beide Eigenschaften schließen aufgrund der Fakten einander aus.

Im Feld der Politik ist die Faktenselektion meist die Regel, da ja die Interessenlagen unterschiedlich sind. Vielfältigkeit der Ansichten wird oft nicht als bereichernd sondern beunruhigend und Angst erzeugend empfunden. Viele Menschen wollen gesagt bekommen, was wahr sei. Mit Unsicherheiten zu leben, erfordert seelische Stabilität. Eigene Meinungsbildung ist mühsam. Dieser Anstrengung wollen sich viele nicht aussetzen.

Wichtig erscheint mir, daß oft Wünsche - bewußt oder unbewußt - bezüglich des Endergebnisses vorliegen. Diese Situation möchte ich "finales Denken" nennen. Dieses wird z.B. Daniel Goldhagen bezüglich seines Buches "Hitlers willige Vollstrecker" vorgeworfen /10/. In diesem Zusammenhang ist folgender Aphorismus von Nikolaus Cybinsky erhellend: "Argumentierend verbiegen wir die Welt, damit sie uns widerstandslos zur Rechtfertigung unserer Argumente dient. Derart verbogen, haben wir auch keine Angst mehr vor der Objektivität."

Im Bereich der Naturwissenschaften und der technischen Wissenschaften ist es infolge von reproduzierbaren Ergebnissen eher möglich, unstrittige Fakten zu definieren. Entsprechen Fakten den theoretischen Modellen, so begnügt man sich damit meistens.

Diese Betrachtungen sollten mit den Ergebnissen der Gehirnforschung, der Denkpsychologie und der Wahrnehmungspsychologie in Zusammenhang gebracht werden.

Vielleicht ist in diesem Zusammenhang erhellend, wie einer der schärfsten Denker, die uns bekannt sind - nämlich Napoleon Bonaparte mit der Ergebnisfindung umgegangen ist.

Hierzu einige Notizen /7/.

"Seine Augen durchdrangen äußere Erscheinungen und ließen alles Zufällige beiseite, um zum Wesentlichen vorzudringen. Er war neugierig und stellte tausend Fragen, las hunderte von Büchern ... Sein Gedächtnis war durch die Zielstrebigkeit, mit der er seine Pläne durchführte, geschult und selektiv geworden (welche Fakten sind relevant?). Er wußte, was er vergessen durfte und was er behalten mußte. Er war methodisch: die Einheitlichkeit wie die Rangfolge seiner Bestrebungen verlangte eine klare und richtungsweisende Ordnung seiner Ideen und Handlungen.

Durch ständiges Vergleichen seiner Erfahrungen mit seinen Erwartungen wurde er bewandert in der Berechnung möglicher Reaktionen. "Ich sinne sehr viel nach" sagte er. "Wenn ich einer Entwicklung gewachsen bin, so kommt das daher, daß ich lange über die Sache nachgedacht habe, ehe ich sie in Angriff nahm. Auf dem Gipfelpunkt seiner Entwicklung ließ er seine klare Voraussicht noch nicht von seinen Wünschen trüben.

Er bemühte sich, gegen Zufälle auf der Hut zu sein und erinnerte sich selbst wiederholt daran, daß es dennoch oft vom Sieg zur Katastrophe nur ein Schritt war. Er ging davon aus, daß alle Menschen bei ihren bewußten Handlungen und Gedanken von Eigennutz geleitet werden.

Seine Seele war ein Kampfplatz, auf welchem scharfe Beobachtungen und aufgeklärte Vernunft mit lebhaften Einbildungen stritten, die sie zuweilen sogar mit Aberglauben verdüsterten.

Bei dieser Beschreibung geht es im wesentlichen um Faktenfindung gepaart mit finalem Erfolgsdenken.

Diese Zeilen zeigen, wie dürr der Versuch einer Analytik im Vergleich zu den tatsächlichen Vorgängen im Menschen ist.

Den Zusammenhang zwischen Fakten und der geistig-psychischen Erfahrung - den das Bild 1 darzustellen versucht - wird durch folgende Notiz von Joachim Fest /9/ über ein Gespräch in Rom erhellt : "Im Weitergehen, angesichts neuer Zahlen, Namen und Maßangaben, daß die Fakten noch nichts bedeuten, ihre Kenntnis sei nur die Voraussetzung, und alles wirkliche Fragen beginnt jenseits davon."

Zusammenfassend glaube ich sagen zu können, daß aufgrund der normalerweise herrschenden Umstände bei jeder Wahrheitsfindung nahezu jede Person zu einem anderen Schluß (persönliche Wahrheit) gelangt, wenn Freiheit besteht. Das einander Nichtverstehen ist also etwas ganz Natürliches. Wir sollten uns dessen stets bewußt sein. Dadurch könnten persönliche Enttäuschungen infolge von Meinungsverschiedenheiten, die nicht selten zu Aversionen und Aggressionen führen, abgebaut werden. So könnte zur Gelassenheit und Toleranz verholfen werden.


Bild 1 Wirkungsfolge

1

2

3

<

4

5

6

Objekte
Sachen
Personen
Vorgänge
Wirklich-
keiten
1.Art

>
>
>
>
>

Fakten/

Daten

>
>
>
>
>
Fakten/
Daten-
Selektion,
bewußt o.
unbewußt


>
>
>
Inter-
pretation
aufgrund
der DSI
> Wahrheit
Wirklich-
keit 2.Art
Evidenz
Plausibili-
tät
Bedeutung
> Schlüsse
Meinungen
Urteile
Ergebnisse

Außenwelt

Zwischenwelt

Innenwelt

Innenwelt

Innenwelt

Innenwelt


25.10.96
Verfasser: Wolfgang Dittrich, München
Fußnote:
Für eingehende Diskussionen dankt der Verfasser Herrn Helmut Hille
Schrifttum: [zugleich eine Art Personenverzeichnis, da in dieses nicht aufgenommen]
/1/ Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Rowohlt Verlag
/2/ Paul Watzlawik, Wie Wirklich ist die Wirklichkeit, Serie Piper
/3/ I.M. Bochenski, Die zeitgenössischen Denkmethoden, Verl. Francke
/4/ Helmut Hille, Was veranlaßt uns, eine Aussage für "wahr" zu halten, Aufklärung und Kritik, Heft 1/1995.
/5/ Kai Hauke, Zwischen Skepsis und Kritik, Lyotard im Widerstreit, Aufklärung und Kritik, Heft 1/1996
/6/ Hans Georg Gadamer, Die Kunst Unrecht zu haben, Wahrheit und Methode, Philosophische Hermeneutik, SZ 10./11.2.90
/7/ W. und A. Durant, Kulturgeschichte der Menschheit, Bd.17
/8/ Bayr. Rundfunk, Forum der Wissenschaft, 6. bis 8.8.96
/9/ Joachim Fest, Im Gegenlicht, Goldmann Verl.
/10/ Johannes Heil, Das politische Buch, Südd.Zeitung, 19.8.96
/11/ Heinrich Rombach, Der kommende Gott, Rombach Verlag 1991

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