Die Generierung des Geistigen

Ein Beitrag zur Neurophilosophie


mit: Anmerkungen zur Hominidenforschung

Bei der schwierigsten aller schwierigen Fragen, bei der Frage nach der Natur des menschlichen Geistes, der sich selber ein Rätsel ist, schon weil es ihm an der notwendigen Distanz zu dieser Frage fehlt, um sachlich urteilen zu können, stehen folgende Fakten zur Verfügung:

  1. Der Vormensch Australopithecus war eine affenähnliche Kreatur mit kleinem Hirn, die (dank kräftiger Gesäßmuskeln) aufrecht ging. Daher ist der aufrechte Gang (Bipedie) kein "Produkt" des Menschseins, sondern eine Voraussetzung. (Schon vor ca. 8 Millionen Jahren lebte im Gebiet der heutigen Toskana Oreopithecus bamboli, ein aufrecht gehender Affe, der es jedoch nicht zu einem Vorfahren des Menschen brachte.)

  2. Der aufrechte Gang ermöglichte die weitere Sensibilisierung der bereits existierenden Greifhand. (Wie alles in der Evolution ist dieser Prozeß weder zwangsläufig, noch verläuft er kontinuierlich.)

  3. Die Entwicklung des sprichwörtlichen Fingerspitzengefühls*, u.a. durch Werkzeuggebrauch (Arbeit), machte die Hand zum zielführenden Organ des Verstehens. Die eingefahrene Verbindung von Verstand und Hand wird an der unwillkürlichen Gestik beim Sprechen erkennbar.** Gehörlose können sich heute mit ihrer Hilfe detailliert verständigen, Blinde mit Hilfe ihrer Finger eine Spezialschrift "lesen", Geübte blind mit ihr auf einer Tastatur schreiben.

  4. Je mehr der Tastsinn sich entwickelte, um so mehr wurde er, wegen seiner Verlässlichkeit, zum Sinn der Wahrheit. Dieser Aufstieg in der Hierarchie der Sinne hat zwei Gründe: a) seine schon genannte Feinfühligkeit und b) weil er kein vermittelndes Medium braucht, das eigenen, Daten verfälschenden Gesetzen unterliegt. Unter natürlichen Bedingungen gibt es keine taktilen Täuschungen, wie es z. B. optische Täuschungen gibt, höchstens irrige Interpretationen. Was den Händen widersteht, das können wir verstehen: es existiert und hat zuverlässig die und die Beschaffenheit.
    Über dem Tastsinn steht noch der Gleichgewichtssinn, der u.a. dem Hirn sagt, was als "oben" und was als "unten" zu interpretieren ist, und der überhaupt Voraussetzung des aufrechten Ganges ist. Aber auch Pflanzensamen "wissen" bereits in dunkler Erde "oben" und "unten" zu unterscheiden und treiben den Keim zum Lichte hin.

  5. In der Geschichte der Hominiden und ihrer Vorläufer wurde aus dem instinktgelenkten Fuß die Hand das Organ des Handelns. Durch sie bekam der Vormensch Gelegenheit, handelnd zu begreifen und, mit Hand- und Fingerzeichen beginnend, sich explizit zu verständigen (gezielte Gestik). Durch die damit verbundene weitere Ausformung der linken Hirnhälfte, mit der in der Regel die Rechtshändigkeit verbunden ist, begann sich der menschliche Teil des Verstandes zu bilden.***

  6. Der schwierigste Teil des schwierigsten der Probleme ist die Begriffsbildung. Hier muss man sich darüber im klaren sein, dass mit Begriffen Bedeutungen transportiert werden, die sich das Gehirn zuvor erarbeitet haben muss. Wer Gesten sieht oder Wörter hört, muss schon deren Bedeutung kennen, um sie zu verstehen oder er muss versuchen, sich ihr Verständnis aus ihm bekannten Bedeutungen zu erschließen. Am Anfang war daher nicht das Wort, sondern die Bedeutung, nämlich die von sich entwickelnder Körpersprache, welche ggf. durch Laute unterstützt wird. Haltungen, Mimik, Gesten und Laute sind Daten, die - wie bei allen Daten - nur durch ihr Verständnis zur Information werden können, wobei der Verstehende das Fremde vor allem anhand des Eigenen begreift.
    Dazu muss man wissen: Das Gehirn ist ein interpretierendes Organ, das sich an Erfahrungen (nicht zuletzt mit sich selbst) und Erwartungen orientiert. Aber um sich als Herrschaftsorgan beim Ich durchsetzen zu können, führt es sich so auf, als hätte es ein objektives Wissen. Wer darauf hereinfällt, wird nicht nur das Gehirn niemals verstehen sondern überall nur den von ihm erzeugten Illusionen folgen. Alle Gehirnforschung kann zum Verständnis des menschlichen Geistes nur Marginales beitragen, solange sich Forscher über die interpretierende und mit Plausibilitäten arbeitende Natur des Gehirns von ihm täuschen lassen oder sich nicht getrauen, ihre Ent-Täuschung zuzugeben. Zum sog. "Attributationsmechanismus" s. den nachfolgenden Text (III/2) "Die Genese des Lebens"

  7. Das bisher Gesagte lässt m. E. nur den folgenden Schluß zu: Was bei der Vermenschlichung des Gehirns durch die Sensibilisierung der Hände so zugenommen hat, ist die Fähigkeit, Bedeutungen zu generieren und mit ihnen ein immer reicheres Geistesleben zu entwickeln. Die reale und die verstandesmäßige Aneignung der Außenwelt gingen Hand in Hand: mit den Möglichkeiten des differenzierten Greifens wuchs das Begreifen. Begriffe wurden erarbeitet. Aus dem Fassen wurde das Erfassen, aus dem Bedeuteten, was beim Hindeuten gemeint ist, wurde die Bedeutung des Wortes. Ebenso wurde aus der aufklärenden Gebärde des Weisens das Ver- und Beweisen. Schließlich entstand durch die Differenzierung der die Körpersprache begleitenden Laute die Begriffssprache. Dieser Prozeß zeigt, was das Geistige ausmacht:

    Das Geistige ist die nach innen verlagerte Auseinandersetzung mit der Welt.
  8. Sprachlicher Ausdruck unterstützt und ersetzt schließlich die Mimik und Gestik, weil er ökonomischer ist. Daß daran in beiden Fällen die gleichen Gehirnareale beteiligt sind, kann da nicht überraschen. Dabei wirkt die artikulierte Sprache positiv auf das Vermögen zum Explikation zurück, das ja eine Auseinandersetzung mit dem gefühlsmäßig Gemeinten ist. Als Grundaufgabe des geistig Schaffenden ergibt sich daraus die Klärung der Begriffe, verbunden mit dem Arbeiten am Begriff (Hegel).
    Wie Geräusche Lebewesen erregen, gibt es aber auch immer wieder beneidenswerte Menschen, Komponisten genannt, die ihre Gefühle direkt durch eine Reihe von ausgesuchten Geräuschen = Töne, die dadurch zur Musik werden, ausdrücken und so die Gefühle anderer ohne den Umweg des Wortes ansprechen können Aber auch die Sprachmelodie eines gesprochenen Satzes trägt erheblich zu dessen Verständnis bei. Dagegen ist der Weg des klärenden Geistes der Umweg über den Begriff, wie Hegel ebenfalls sagte.

  9. Bei dem Diskurs zwischen dem Ich und dem Gehirn wird um Welt- und Selbstverständnis gerungen. Denken, Sinnen heißt, nach Sinn suchen, nach einem inneren Licht, das Dinge miteinander in Beziehung setzt. Wenn uns plötzlich Zusammenhänge klar werden, empfinden wir das als eine "Erleuchtung". Und ob Handlung oder Aussage: Sinn macht, was geistig nachvollziehbar ist. Daher entfaltet sich das Geistige jenseits der Kategorien von "wahr" und "unwahr" nach eigenen Regeln. Lüge, Literatur und Poesie bedürfen da nur eines gewissen Erfindungsreichtums. So beglückend dieser in vielen Fällen sein kann: für alle, die die Wirklichkeit erforschen oder sie gestalten wollen bleibt die Aufgabe, das Denken selbstkritisch auf der Spur der Wirklichkeit zu halten bzw. es wieder auf diese zu setzen, wenn sie verloren ging, und die Wirklichkeit, speziell die menschliche Gemeinschaft, nicht durch erdachte "Wahrheiten" zu vergewaltigen.

*In FOCUS 16/96 wird berichtet: "Das Geheimnis eines zielgenauen Wurfs liegt fast ganz in den Fingern, hat Jonathan Hore von der Universität von Western Ontario herausgefunden. Die Sekundenbruchteile, in denen die Finger den Ball freigeben, entscheiden mehr als die restliche Körperbewegung, ob der Ball trifft."

**In SPIEGEL 48/98 wird berichtet, dass Psychologen der Indiana University in Bloomington/USA Versuche mit blindgeborenen Kindern unternahmen und feststellten, dass das Sprechen mit den Händen "ein integraler Bestandteil des Sprachprozesses" ist. Die Gestik bedarf "weder eines Vorbildes noch eines Beobachters." Die Ergebnisse der Versuche in Bloomington bestätigen nur, was jeder an sich selbst beobachten kann und können daher nicht überraschen.

***In FOCUS 3/98, Seite 177, wird unter der Rubrik "Hirnforschung" unter dem Titel "Wurzeln der Sprache" berichtet: "Bislang galt sie als einzigartig, ja geradezu typisch menschlich, jene asymmetrische Vergrößerung am Planum temporale der linken Hirnhälfte des Homo sapiens. Das Sprachvermögen, musikalisches Talent, die Händigkeit eines Menschen, aber auch Störungen wie Schizophrenie wurden mit dieser Auswölbung des Gehirns in Zusammenhang gebracht. Bei allen anderen Primaten, so galt es bislang als ausgemacht (!!!) fehle dieses Merkmal, ihre Gehirne seien absolut seitengleich. Bei der Untersuchung von 18 Schimpansenhirnen habe US-Wissenschaftler nun bei 17 Tieren ebenfalls eine Vergrößerung am linken Planum temporale registriert. Wie die Forscher im Wissenschaftsjournal 'Science' mitteilen, handelt es sich dabei um eine dem menschlichen Sprachzentrum 'vergleichbare Asymmetrie'. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass der evolutionäre Ursprung der menschlichen Sprache in diesem Hirnbereich schon vor 8 Millionen Jahren im gemeinsamen Vorfahr von Schimpanse und Mensch angelegt ist." - Ein solches Ergebnis kann nur jene überraschen, die den selbstschöpferischen Prozeß der Evolution innerlich nicht akzeptiert haben und daher irgendwie meinen, dass auch der Geist vom Himmel fiel bzw. schon immer als Geist Gottes da war (v. Ditfurth) und so das Menschliche entstand. Die Frage, wie jene Asymmetrie sich gebildet hat, versucht die oben gegebene Darstellung zu beantworten, wobei aufrechter Gang und Greifhand tierisches Erbe sind. Die zunehmende Feinfühligkeit der Hände begünstigte dann das Vermögen zur Explikation und damit die weitere Ausformung des Planum temporale. Mit dem Fortschreiten dieses Vermögens entwickelten sich gezielte Gestik und Mimik und die Fähigkeit zur musikalischen und sprachlichen Artikulation, um die wir ja immer noch ringen! Ein Blick, eine Geste, ein Laut kann auch heute noch mehr sagen, als "tausend" Worte und es wäre ein Fehler, nur auf das Gesprochene zu achten.

© HILLE 1996-2005

s. auch die Sentenz auf ZEIT UND SEIN vom September 2022: Wie wir zu Menschen wurden. Und was noch werden kann

Anmerkungen zur Hominidenforschung

unbekannte Philosophin (Foto H.Hille)

Menschen forschen, sie denkt nach
(1) Geschicklichkeit triumphiert über Kraft
(2) Der Mensch ein Fleischfresser?
(3) Oldovan-Stätten - Stätten von Nussknackern?
     Über den Schimpansen "die Einzigartigkeit der Menschheit" verstehen?
(4) Auch Affen lesen in Gesichtern
(1)
Die Folgerungen der US-Wissenschaftler sind nur die halbe Wahrheit: Die Steigerung der "Handfertigkeit" geht einher mit einer verbesserten geistigen Differenzierung und damit letztlich auch mit einer Verbesserung der Kommunikation, die Evolutionsvorteile schafft.
Foto: dpa, Rufo, Gamma(2), E. Trinkaus, W. Niewoehner  -  Quelle: FOCUS 8/2001

(2) Der Mensch ein Fleischfresser?
Neuerdings gilt es anscheinend bei Anthropologen "als ausgemacht", dass die Hirnmasse der "grazilen" Australopethicinen durch das Essen "eiweißreicher Nahrung", z.B. Hirn und Knochenmark von Kadavern, sich vergrößerte, an das sie durch Verwendung scharf geschlagener Steine gelangten (so u.a. Leslie Aiello am 3.7.02 in "Wie aus Affen Menschen wurden" in arte). Hier wird materiell und kausal argumentiert wie in der Physik, statt kognitiv und evolutionär, wie es notwendig ist, wenn es um die Verständlichmachung der Evolution neuronaler Netze geht. Es dient natürlich den Interessen der Fleisch- und Pharmaindustrie, den Menschen als einen geborenen Fleischfresser hinzustellen. Abgesehen davon, dass der Mensch als unspezialisierte Art par excellence ein Allesfresser ist, ist es für die Gesundheit der Menschen und die Zukunft des Planeten richtiger und wichtiger, den überhand nehmenden Fleischkonsum und die damit einhergehende Vergeudung von Futtermitteln bis hin zum Abholzen des Regenwaldes für den Futtermittelanbau anzuprangern. Durch Verwendung falscher Kategorien werden mit dem Anschein der "Wissenschaftlichkeit" falsche und fatale Argumente in die Welt gesetzt. Hier haben wir es nur insofern bestenfalls mit einer halben Wahrheit zu tun, als Menschen auch Fleisch essen und die "robusten" Australopethicinen, die offensichtlich reine Pflanzenfresser waren, als zu spezialisierte Art nicht zu unseren Vorfahren zählen.

(3) Oldovan-Stätten - Stätten von Nussknackern?
Passend zur obigen Diskussion wird im Heft 2/2002 "MaxPlanckForschung", dem Wissenschaftsmagazin der MPG, von einem "Werkstattbesuch" bei Schimpansen im Regenwald der westlichen Elfenbeinküste berichtet. Schimpansen haben dort als kulturelle Besonderheit seit langem die Technik des Nussknackens und sie haben traditionelle Stätten, zu der sie sogar bis 15 kg schwere Hammersteine aus Hunderte von Metern entfernten Fundstellen bringen. In einem interdisziplinären Projekt wurden einige Nussknacker-Stätten archäologisch untersucht. Helmut Hornung berichtet von einer "Stätte", die ausdrücklich so genannt wird: "Insgesamt fanden die Forscher 479 Steinstücke, einige davon 21 cm tief im Boden. Ein faszinierender Aspekt dieser Entdeckung: Die Größe der Steine, die Form der Abschlagsplitter und die vielen kleinen Trümmer ähneln jenen Steinen, die einige unserer frühen Vorfahren in Ostafrika in der so genannten Oldovan-Zeit (2,5 bis 2 Millionen Jahren) hinterlassen haben. Darüber gleichen die Anzahl der Steine pro Quadratmeter und die Größe der Steinhaufen einigen Sammlungen aus dieser Epoche." Es ergeben sich somit folgende Fragen: Werden die Affen uns nun immer ähnlicher? Oder waren sie/wir vor 2,5 bis 2 Millionen Jahren dieselben Affen? Worin besteht letztlich der grundsätzliche Unterschied zwischen Schimpansen und Menschen, außer im Hirnvolumen?
      Weiter heißt es: "Vielleicht können einige der technologisch einfachsten Oldovan-Stätten als Nussknackerstellen neu interpretiert werden. Außerdem deutet ein Teil der Artefakte aus den höher entwickelten Oldovan-Sammlungen darauf hin, dass die frühen Hominiden "harte Nahrung" zu sich genommen haben." Wenn es sich dabei auch um Nussknackerstellen gehandelt haben könnte: hart war doch nur die Schale der Nüsse, nicht unbedingt der Inhalt. Und was sie sonst noch gegessen haben wissen wir ja gar nicht. An der Elfenbeinküste dauert die Nussernte 4 Monate und danach oder auch schon dazu muss/kann es doch auch noch andere Nahrung gegeben haben. "Unsere Arbeiten verdeutlichen, wie viel mehr wir noch über den Schimpansen als unseren nächsten lebenden Verwandten lernen müssen, um die Einzigartigkeit der Menschheit zu verstehen", sagt Boesch (Christophe Boesch, Direktor am Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie).

Kommentar:
Über den Schimpansen "die Einzigartigkeit der Menschheit" verstehen?

Hierzu ein Tipp: Schimpansen knacken mit Steinen Nüsse, Menschen schlagen mit Steinen auch Schädel ein. Ein Grund, warum Schimpansen und andere Affen das nicht tun: Sehr wahrscheinlich glauben sie nicht an Geister und Dämonen oder noch "höhere" unsichtbare Wesen und ihre Bosheiten oder Weisheiten und an die "einzig wahre Lehre" und schlagen schon deshalb nicht zum "Beweis" ihrer "Wahrheit" Artgenossen die Schädel ein. Zumindest aber fehlen ihnen die sprachlichen Mittel, um über Glaubensinhalte streiten zu können. Erst das Anwachsen des Hirnvolumens machte es möglich, immer mehr "für wahr" gehaltene Bedeutungen zu generieren, über deren "Wahrheit" dann nicht nur mittels der Sprache gestritten werden kann. Und neben all diesen geistigen Luftblasen machten einzelne Hominiden über das Nussknacken hinausgehende, für das Überleben nützliche Erfindungen, auch wenn alle anderen natürlich erst einmal dagegen waren. Darum dauerte es Jahrmillionen, bis aus Vormenschen zivilisierte Wesen wurden. Aber bis alle soweit zivilisiert sind, dass sie sich wegen der "Wahrheit" von Hirngespinsten nicht mehr die Schädel einschlagen wollen, kann noch lange dauern, vielleicht zu lange, weil die Hammersteine von heute A-B-C-Waffen, Terror, Überbevölkerung und Umweltvernichtung heißen. Daher muss es mehr denn je das zivilisatorische Ziel sein, die Wahrheit des Lebens vor den Wahrheitsansprüchen des Denkens zu schützen, dessen Wahrheiten ja Wahrheiten aus zweiter Hand sind, wenn dieses versucht, die Macht zu ergreifen.
*s. hierzu auch das Buch von Rüdiger Safranski von 1990 "Wieviel Wahrheit braucht der Mensch?"

(4) Auch Affen lesen in Gesichtern
Im Heft 3/2003 der MaxPlanckForschung wird von einer Veröffentlichung zu diesem Thema in der Zeitschrift NATURE vom 26. Juli 2003 berichtet, die von Wissenschaftlern des MPI für biologische Kybernetik in Tübingen stammt. Sie haben durch Versuche festgestellt, dass "Rhesusaffen in der Lage sind, Mimik und Lautäußerungen ihrer Artgenossen als Einheit zu verstehen. Die Forscher sehen in dieser Fähigkeit der Affen eine evolutionäre Vorform der menschlichen Sprachwahrnehmung. Die artspezifischen Lautäußerungen von Affen sind wesentlich für deren soziale Interaktion, für ihren Reproduktionserfolg und ihr Überleben. Die Tiere erzeugen ihre Laute dabei häufig in Verbindung mit ganz bestimmten Körperhaltungen und Gesichtsausdrücken." Das wird sicher nicht nur für Rhesusaffen gelten, auch wenn andere Tiere nicht wie sie über ein so "komplexes Repertoire an mimischen und stimmlichen Ausdrucksformen" verfügen, wie bei uns Menschen, weshalb es uns vielleicht nur schwer fällt, das "Sprechen" der anderen Tiere spontan wahrzunehmen, haben wir als Städter doch auch weitgehend verlernt, auf die Körpersprache zu achten. Mit den Tübinger Forschern bin ich daher einig, dass es die Körpersprache war, zu der auch spezifische Lautäußerungen gehören können, die der Sprache des Menschen vorausging, denn zuallererst muss es etwas geben, das verstanden werden kann und an dem sich der Verstand zu entwickeln vermag. Und das Not-wendig zu Verstehende ist nicht nur die Mimik, sondern das ganze Verhalten eines Lebewesens.
      Durch die Fähigkeit zur Interpretation wird einer Erscheinung eine Bedeutung verliehen, gleich ob sie als "Sprache" gemeint war oder nicht, ist doch das Gehirn ein interpretierendes Organ par excellence, das ständig auf der Suche nach Bedeutungen ist. Und zwar seit es in der Natur das Überlebensproblem gibt! Bedeutungen zu generieren ist dabei eine aktive Fähigkeit des Interpretierenden, der die ihm plausiblen Bedeutungen an die Dinge heranträgt und ausprobiert, wie weit sie sich bewähren. Wenn immer man etwas "Sprache" nennt, ist Bedeutungsvermittlung gemeint, weil in den Schulen des Lebens Sprache nicht die Sache selber ist, über die gesprochen wird. Erst die Bedeutungsvermittlung lässt etwas zur Sprache werden. Will man über die rein materiellen Feststellungen einer Forschung hinauskommen und sich z.B. den Sinn von Sprache erschließen, halte ich philosophische Fragestellungen, die das Ganze bedenken, für unverzichtbar.
      In dem Bericht heißt es weiter: Asif Ghazanfar (einer der Forscher) geht davon aus, dass es sich bei dieser Fähigkeit der Affen um eine evolutionäre Vorstufe für die komplexe Sprachwahrnehmung bei Menschen handelt" und er will durch Gehirnforschung die "übereinstimmenden Bereiche im menschlichen und nichtmenschlichen Primatengehirn" finden. Ich halte es jedoch für unwahrscheinlich, dass es solche speziellen Bereiche gibt, halte vielmehr die komplexe = ganzheitliche Wahrnehmung der Umwelt nicht für einen eigens erfundenen späten "Trick" der Evolution, wie gesagt wird, dessen neuronalen Niederschlag es nun zu finden gilt, sondern für die ursprüngliche Form des Verstehens, bedingt durch die Ganzheitlichkeit des Verhaltens von Lebewesen und ihr analoges Verstehen fremden Verhaltens anhand ihrer eigenen Ganzheit. Die Zerlegung der Wahrnehmung in visuelle und akustische Zeichen ist doch mehr die Leistung eines zergliedernden Intellekts, erfolgt also im Nachhinein durch den menschlichen Beobachter. Auch hier kann eine philosophische Fragestellung (die nach der Rolle des Beobachters) und ein ganzheitliches Denken helfen, Probleme aufzulösen, so dass sie nicht mehr (durch neue Hypothesen mit neuen Problemen) "gelöst" werden müssen, weshalb ich die Neurophilosophie für die Zukunft der Erkenntnislehre halte. Eine reine labormäßige Hirnforschung allein, ohne grundsätzliche Fragestellungen, kann das nicht schaffen, wie man hier wieder ersieht. Dass viele Philosophen andererseits sich nicht um die Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung kümmern, ist das unselige Gegenstück, weshalb man ja auch von den "zwei Kulturen" des Denkens spricht, deren Trennung es zu überwinden gilt, verhindert sie doch ein umfassendes Verständnis allen Seins.



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