Da wo Fuchs und Has sich "Gute Nacht" sagen, tanzte einst ein gar lächerliches Männlein erst noch um ein Feuer und schrie: "Ach, wie gut ist, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß!" und freute sich schon mächtig auf das ihm von der Königin für seine großen Dienste versprochene erstgeborene Kind. Doch drei Tage später riss das Männlein sich selbst mitten entzwei, weil durch sein Geschrei ein Bote der Königin seinen Namen in Erfahrung gebracht hatte und er dadurch seinen Anspruch auf ihr Kind durch eigene Unvorsichtigkeit verwirkt hatte. Wie wir vom "Spieglein an der Wand" der Königin bei Schneewittchen schon wissen, haben Herrschaften eben überall ihre Augen und Ohren und wenn sie dieses Wissen auch noch mit den Namen von Personen in Verbindung bringen können, sind diese ihnen schon ausgeliefert. Nur wer keinen Namen hat, über den kann ein Herrschaftsapparat nicht verfügen. Daher beginnt alle Herrschaft mit der Zuteilung von Namen - schon in der Familie. Und erst recht sind Staat und Kirche aus diesem Grunde interessiert, dass das Neugeborene möglichst schnell getauft wird.
Namen setzen Sprache voraus. Der Neurophysiologe Detlef Linke schreibt in seinem Büchlein DAS GEHIRN: "Der Entwicklung der Sprache kommt in der Evolution eine besondere Bedeutung zu, schließlich ermöglichte sie auch die Bildung größerer Gemeinwesen, als dies bei den Primaten der Fall war, die mit der Technik des Körperkontakts im allgemeinen nur Gruppen von bis zu 50 Individuen stabilisieren konnten, während die menschliche Sprache Gruppierungen von bis zu 200 Menschen unmittelbar organisieren kann." Auch wenn es vielleicht nur bis zu 100 waren, verstehen wir den Aufbau menschlicher Herrschaftsapparate nun unmittelbar: Man beginnt mit einer Gruppe A, der Alpha-Gruppe, die so groß ist, dass man die Namen der Einzelnen zumindest im Prinzip kennt. Denn wessen Namen man nicht kennt, der kann auch nicht zur Verantwortung gezogen werden, wenn er Befehlen oder Vereinbarungen nicht folgt. Die der Gruppe A zugehörigen Mitglieder begeben sich dann in ihre B-Gruppen und sagen deren Mitglieder, was zu tun ist, die es an die C-Gruppenmitglieder weitergeben usw. usf. Der Führer der Hundertschaft, der Centurio, oder der moderne Kompaniechef, der seine Leute kennt, ist dann zwar der unterste, aber der eigentliche Führer an der Front, weshalb er besonders sorgsam ausgewählt werden muss. Selbst im Zeitalter moderner Kommunikation ist die Herrschaft im Grunde noch so organisiert. Das Radio und das Fernsehen ermöglichen zwar, dass der oberste Chef sich direkt an die breite Masse von Millionen Bürgern wenden und seine Parolen ausgeben kann - aber die Kontrolle über die Massen geschieht weiterhin in der beschriebenen, durch Sprache vorgegebenen Weise.
Während Namen der Kontrolle von Personen dienen, dienen Parolen/Schlagwörter der Kontrolle ihres Geistes. Es werden solche ausgegeben, die besonders einleuchtend sind, wie Vaterland, Ehre, Freiheit, Gleichheit, Fortschritt, Kampf für die gerechte Sache, gegen Barbaren, Ungläubige, Klassenfeinde, Abweichler, Konterrevolutionäre, Untermenschen, Terroristen usw. Ohne Sprache gäbe es also keine groß angelegten Aggressionen, weil keine große Organisation von Menschen möglich wäre. Darum ist es so wichtig, auf die Sprache zu achten: auf die eigene und die der anderen, die in der Regel die Politiker sind. Sie wollen alle nur unser Bestes, nämlich unser Geld z.B. in Form von Mandaten oder Ministersesseln oder wenigstens von Wahlkampfkostenerstattungen. Politiker sind also solche, die sich so zu artikulieren vermögen, dass sie überzeugen können. Und sie lenken unser Denken, indem sie ihre Themen und Sprachregelungen auf dem Weg über die Medien täglich über uns ergießen. Wo es in früheren Herrschaftssystemen zur Lenkung der Massen oft noch der äußeren Gewalt bedurfte, genügt heute eine willfährige Medienlandschaft, wie sie uns auch vom "Hort der Demokratie" zur Rechtfertigung des Irakkrieges erst jüngst vorgeführt wurde, wie überhaupt die Kontrolle der Köpfe billiger und wirksamer ist als die Kontrolle der Leiber.
Das haben längst auch schon andere Berufsgruppen erkannt, z.B. die Psychiater. Jörgen Blech berichtet als Verfasser des Bestsellers "Die Krankheitserfinder - Wie wir zu Patienten gemacht werden" im SPIEGEL SPECIAL 4/2003* zum Thema "Die Entschlüsselung des Gehirns", im Essay "Ganz normaler Irrsinn" über den Skandal der Psychiatrie, die infolge ihrer Definitionshoheit oft genug nach kommerziellen Gesichtspunkten definiert, welche mentale Auffälligkeit eines Menschen eine behandlungswürdige Krankheit ist. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist auf diese Weise in den USA die Zahl der diagnostizierbaren und folglich abrechenbaren "Krankheiten" von 26 auf 395 gestiegen. Viele der "neuen Leiden der Seele" sind in Wahrheit einfach Wechselfälle des normalen Lebens. Niemand kann heute mehr sicher sein, nicht als Kranker angesehen zu werden. Gibt sich jemand besonders aktiv und lebensbejahend, könnte es sein, dass er gerade deshalb als depressiv und behandlungsbedürftig eingestuft wird! Dabei ist dieses "Leiden" eine reine Erfindung, die von einer PR-Agentur in Oberursel etabliert wurde, die es nach der österreichischen Kaiserin Elisabeth "Sisi-Syndrom" genannt hat. "Die Zahl der angeblich am Sisi-Syndrom erkrankten Deutschen wurde unterdes auf drei Millionen beziffert." Also aufgepasst, wenn Sie zu lebensfroh zum Arzt gehen, dass Sie nicht beim Psychiater als "Sisi" wieder herauskommen.
Nun sollte man aber nie über etwas schreiben, das man nicht auch definieren kann, denn sonst weiß man eigentlich gar nicht, worüber man schreibt. Hier bei der Sprache müssen wir uns fragen, durch was etwas zur Sprache wird. In erster Linie schlagen sich Forscher und Autoren mit Erscheinungen der Sprache herum, sagen aber nichts über den Sinn von Sprache, weshalb sie viel zu oft kausal statt neuronal argumentieren. Neugierigen Lebewesen kann aber alles Lebendige und Tote zur Sprache werden - nämlich alles, was ihnen Bedeutungen vermittelt, z.B. die Bedeutungen "Beute", "Feind", "Freund" oder "Sexualpartner" - auch vielen Mensch genügen diese vier Kategorien, oder sogar nur zwei, wenn ihnen "Freund" und "Sexualpartner" auch nur "Beute" sind. Die Bedeutung ist das Blut der Sprache. Sie wird von Naturwissenschaftlern nicht gern bemüht, weil sie etwas rein Mentales ist. Was aber ist Sprache ohne den Versuch, mentale Inhalte zu vermitteln, seien es Emotionen, Namen oder rein geistige Gehalte? Nichts! Absolut nichts! Am Anfang war also nicht das Wort sondern die Bedeutung, auch die von unwillkürlicher Körpersprache, die jedes komplexe Lebewesen unbewusst spricht, während die Gebärde eine absichtsvoll erzeugte Geste ist, die bereits auf ein verständiges Gegenüber setzt.
Es waren also die intuitiv erfassten Bedeutungen (ob zutreffend oder nicht!) von Objekten, Zuständen, Ereignissen und Haltungen, die zur Sprache drängten. Man könnte aber auch sagen: es waren Ideen, die mitgeteilt werden wollten, gleich wie. Und irgendwann wurde es aufrecht gehenden Zweibeinern mit genügend freien Neuronen auch physiologisch möglich, sich lautlich besser zu differenzieren. Aber nicht nur lautliche Äußerungen sind Sprache. Auch Gehörlose, die sich über eine Zeichensprache verständigen, zeigen, wie man ohne Sprechapparat erfolgreich miteinander kommunizieren kann. Bloß weil wir mühelos so viel schwätzen können, sind wir so auf die gesprochene Sprache fixiert. Eine stille Sprache verstehen wir bestenfalls als einen Behelf, weshalb der moderne Mensch, besonders aber der männliche, viele für ihn wichtige Zeichen übersieht. Doch die Gebärdensprache ist einfach nur eine andere, urtümlichere Art mit Hilfe von Symbolen Bedeutungen zwischen Lebewesen zu transportieren, was ja der Sinn von Sprache ist. Im SPIEGEL SPECIAL 4/2003 wird von taubstummen Kindern in Managua berichtet, die von sich aus eine eigene Gebärdensprache einschließlich einer Grammatik entwickelten, wobei jene Forscher, für die nur materielle Gründe zählen, annehmen, dass die Grammatik dem Menschen angeboren ist, was ich jedoch nicht für erforderlich halte. Kommentiert wird dieser linguistische Urknall im SPECIAL mit dem schönen Satz: "Das Einzige, dessen es zur Schöpfung einer Sprache bedarf, ist eine hinlänglich große Zahl von Gesprächspartnern." Von intelligenten Gesprächspartnern, wie ich hinzufügen möchte, die ihre Lage erkennen, in der sie stehen. Denn die Grammatik, die so vieles zu bewirken vermag, ist einfach der Spiegel der geistigen Situation, die erfasst werden muss, um mit ihr umgehen zu können.
Auch wenn die Sprache Anlass vieler Missverständnisse und Streitereien ist, dient sie ihrer ursprünglichen Intention nach dem Austausch von Gedanken. Statt Faust- und Keulenschläge konnten mit der Geburt der Sprache plötzlich auch Argumente ausgetauscht und Kämpfe vermieden werden - sobald die Einsicht da war oder die schmerzliche Erfahrung vorlag, dass dies für alle Beteiligten der vorteilhaftere Weg ist, miteinander umzugehen. So hat Sprache auch ein immanent friedensstiftendes Potential, sobald man im öffentlichen Leben Glaubensfragen, die oft genug nur getarnte Herrschaftsfragen sind, außen vor lässt. Als Aufgabe aller Kirchen halte ich, gemeinsam das Liebesgebot (Gottes oder eines wachen Herzens) ohne Wenn und Aber zu lehren und vorzuleben - das ist Aufgabe genug. Wer miteinander redet, schießt nicht aufeinander. Erst wo der Dialog abbricht, wird es wirklich gefährlich. Voraussetzung eines erfolgreichen Dialogs aber ist die Bereitschaft, den anderen ernst zu nehmen, ihn als Gesprächspartner anzuerkennen und ihm nicht nur ex cathedra etwas verkündigen zu wollen.
Die demokratische Verfasstheit von Gesellschaften beruht auf dem Recht und der Freiheit aller mündigen Bürger, zur Meinungsbildung beizutragen. Zu dem Recht des Bürgers gehört, bei einer Wahl seine "Stimme" abgeben zu dürfen, den Namen jedoch für sich behalten zu können (von der Wählerliste, in der er eingetragen sein muss, einmal abgesehen), um nicht Repressalien für die von ihm getroffene Wahl ausgesetzt zu werden. Große Gesellschaften bedürfen zur Meinungsbildung Gremien, wo die Sprecher der Vielen sich geistig austauschen können. Und je gefährlicher die Vernichtungspotenziale der Menschheit werden und je mehr die Verflechtung der Welt zunimmt, umso dringender bedarf es internationaler Gremien, welche die Rechte der Vielen gegen Herrschaftsansprüche Einzelner und Gruppen vertreten und durchsetzen. Die Menschheit ist entweder in der Lage, diesen bereits eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen und Rückschläge zu überwinden, oder sie wird am unkontrollierten Egoismus scheitern. Und zu den Rechten der Vielen zählen für mich nicht nur die Rechte der Menschen, die sich wie selbstverständlich immer mehr auf Kosten ihrer Mitwelt ausbreiten, ohne dies zu hinterfragen, sondern auch die Rechte der ganzen Schöpfung auf diesem Planeten, auch der unbelebten, die immer mehr unter einer übermächtig gewordenen Menschheit leidet. Wessen Herz zu eng ist, um für sie mitzuempfinden, der sollte wenigstens so viel Verstand haben um zu erkennen, dass die Menschen für ihr Überleben auf sie angewiesen sind. Auch mit der Natur muss der Mensch zum Frieden kommen. Überhaupt ist es klug, immer im "Dialog" mit ihr zu bleiben, denn wir können viel von ihrer zwar stillen aber sehr alten Weisheit lernen.
© HILLE 2004
Herrschaft durch Sprache
Nachtrag vom Nov. 2012: Auch das Bild einer Person verleiht Macht über sie, z.B. wenn sie zum Gesuchten wird. Daher auch das Bilderverbot in etlichen Kulturen.
*s. auf III/4 "Anmerkungen zu Schriften über Erkenntnistheorie" in "SPIEGEL SPECIAL/Die Entschlüsselung des Gehirns/Lob der Redaktion"
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