"Könntet ihr mit meinem Herzen denken ..."

Der philosophische Kern der Lehre Meister Eckharts

anhand seiner deutschen Texte



Inhalt:
Sein ist ohne "Warum?"
Sein ist ohne Zeit
Der Mensch soll setzen auf ein Sein
Von der höchsten Seligkeit
Das Sein verstehen
Vom Sein zum Bewußt-Sein
Schauendes und wirkendes Leben
Lust am Leben
Über das Erkennen
Die unbedachte Wahrheit
Quellen


Sein ist ohne "Warum?"

Ein jedes Geschöpf wirkt jedes Werk um eines Zweckes willen; dieser Zweck ist allzeit das Erste in der Vorstellung und das Letzte im Tun. (Meister Eckhart)

Der Verstand dient Zwecken, die menschliche Bedürfnisse ihm vorgeben. Darum fragt er auch immer und überall nach Absichten und Ursachen, weil er es so gewohnt ist. Kinder können mit ihrer Warum-Fragerei da ganz schön nerven - aber auch jene Erwachsenen, die hinter der Existenz der Dinge ein Warum suchen und nach dem Sinn der Welt und des Lebens fragen und somit unlösbare philosophische Probleme produzieren. Insbesondere wird von gelehrten Herren gern hinter der Existenz des Menschen eine höhere Absicht vermutet, vornehmlich wohl ihrer eigenen Existenz. Nun ist der Mensch als selbstreflektierendes Wesen sicher eine Neuheit im Kanon der Lebewesen, ohne daß dies irgendeine Absicht beweisen muß. Den unendlichen Regreß der automatischen Warum-Fragerei kann man durchbrechen und zu einer Letztbegründung kommen, indem man sich mit Vernunft klar macht: Die Dinge der Welt sind einfach da und entfalten sich nach ihren Möglichkeiten. Oder wie Parmenides uns schon lehren wollte: Sein kann weder Entstehen noch vergehen, auch wenn es sich nach einen ihm immanenten schöpferischen Prinzip immer wieder wandelt. Eine solche Sicht nenne ich ein Seinsverständnis. Seinsverständnis nimmt und akzeptiert das Sein in seinem Sosein. Auch wenn Meister Eckhart in der Tradition seiner Kirche statt von einem unerschaffenen Sein von Gott spricht, wobei Gott sein Personenwesen erst vom Menschen verliehen wird, weil er selber Person ist, so bringt Meister Eckhart sein Seinsverständnis doch klar auf den Punkt. Und aus diesem Verständnis ergibt sich der philosophische Kern seiner Lehre, von Gott, vom Menschen, von der Welt und der Beziehung zwischen ihnen, die sein seelsorgerisches Wirken trägt. Wenn Mystiker in Paradoxien sprechen ist das nicht eine Eigenart der Mystiker, sondern spiegelt nur die Eigenart des Seins, das menschliches lineares Denken übersteigt. (Eckhartzitate sind durch Kursivstellung gekennzeichnet. Jede neue Fundstelle beginnt mit einer eingerückten Zeile).

Ebenso wie Gott ohne Warum wirkt und kein Warum hat, in derselben Weise, wie Gott wirkt, so wirkt auch der Gerechte ohne Warum. Und ebenso wie das Leben um seiner selbst willen lebt und kein Warum sucht, um deswillen es lebe, so hat auch der Gerechte kein Warum, um deswillen er etwas tue.
     Ein Mensch, der alle seine Werke ohne Warum und nur aus Liebe tut, solch ein Mensch ist tot für die ganze Welt, er lebt in Gott und Gott in ihm.
     Wenn einer tausend Jahre lang das Leben fragte: "Warum lebst du?" - gäbe es ihm Antwort, es würde nur das Eine sagen: "Ich lebe, um zu leben." Das kommt daher, weil das Leben aus seinem eigenen Grunde lebt und aus seinem Eigenen quillt: darum lebe ich ohne Warum, eben weil es nur sich selber lebt. Fragte man einen wahrhaften Menschen, einen, der aus seinem eigenen Grunde wirkt: "Warum wirkst du deine Werke?" sollte er recht antworten, er würde nichts anderes sprechen, als: "Ich wirke, um zu wirken."
     "Und warum lebst du?" - "Meiner Treu, ich weiß es nicht, - ich lebe gerne!"


Sein ist ohne Zeit

Weil Sein weder entstehen noch vergehen kann, ist es auch ohne Beginn in der Zeit, wie überhaupt die Zeit eine menschliche Kategorie ist, die erst durch ein vergleichendes Gedächtnis in die Welt kommt. In Gott aber, das heißt: in Wahrheit, sind alle Dinge in einem ewigen Nun, weil das Jetzt kein Teil der Zeit ist. (s. Text (II/2)

Das Eine selbst aber ist ein Beginn sonder allen Beginn.
     Überhaupt hätte Gott die Welt nie geschaffen, wenn Erschaffensein nicht gleichbedeutend wäre mit Erschaffen. Darum hat Gott die Welt in der Weise erschaffen, daß er sie noch heute ohne Unterlaß erschafft. Ist doch alle Vergangenheit und alle Zukunft Gott fremd und ferne.
     Wollten wir sagen, daß Gott die Welt erschüfe gestern oder morgen, das wäre eine Torheit von uns. Gott erschafft die Welt und alle Dinge in einem gegenwärtigen Nun.
     Gott aber gibt aller Kreatur zuerst das Sein, und darnach erst gibt er in der Zeit - und doch zugleich sondern Zeit - alle die Eigenschaften, welche zur Zeitlichkeit gehören.
     Gott ist ein Gott der Gegenwart. Wie er dich findet, so empfängt, so nimmt er dich, nicht als das, was du gewesen, sondern als das, was du jetztung bist.
     ... weil alle Dinge da nur Gegenwart sind. Was am ersten Tage geschah und was am jüngsten geschehen wird, das ist dort gegenwärtig im ewigen Nun.
     Alles, was Dasein hat, Zeit oder Ort, das rührt nicht bis zu Gott hinauf; er ist darüber.
     Nehme ich ein Stück der Zeit, so ist das etwa der heutige Tag oder der Tag von gestern. Nehme ich aber das Jetzt, das begreift alle Zeit in sich. Das Jetzt, darin Gott die Welt schuf, das ist dieser Zeit so nahe, wie der jetzige Augenblick, und der jüngste Tag ist diesem Jetzt ebenso nahe wie der Tag, der gestern war.


Der Mensch soll setzen auf ein Sein

Aus dem rechten Seinsverständnis ergibt sich unmittelbar, was für die menschliche Seligkeit notwendig ist.

Glaubt mir, alle unsere Vollkommenheit und alle unsere Seligkeit ist daran gelegen, daß der Mensch durchschreite und hinter sich lasse alle Geschaffenheit und alle Zeitlichkeit, ja, sogar alles Wesen, und in den Grund gelange, der grundlos ist.
     Soweit du in allen Dingen ausgehst aus dem Deinen, soweit, nicht weniger und nicht mehr, geht Gott ein mit all dem Seinen. Da findest du wahren Frieden und nirgends sonst. - Die Leute sollten nicht soviel nachdenken, was sie zu tun haben; sie sollten aber bedenken, was sie sein könnten. Wären sie nur gut auf ihre Weise, so würden ihre Werke mächtig leuchten. Bist du gerecht, so sind auch deine Werke gerecht. Nicht gedenke Heiligkeit zu setzen auf ein Tun; man soll Heiligkeit setzen auf ein Sein. Denn die Werke heiligen uns nicht, sondern wir sollen die Werke heiligen. Wie heilig die Werke immer seien, sie heiligen uns durchaus nicht, sofern sie Werke sind, vielmehr: sofern wir wahres Sein und Wesen haben, soweit heiligen wir all unser Tun.
     Gott sieht nicht an, was die Werke seien, sondern allein, was die Minne und die Andacht und das Gemüt in den Werken sei. Ihm ist ja nicht viel an unserem Werk gelegen, sondern einzig an unserer Gesinnung in allen unseren Werken und daran, daß wir ihn allein in allen Dingen minnen.


Von der höchsten Seligkeit

Eben darum ist ja der Mensch seliger, denn ein Holz, weil er Gott erkennt und weiß, wie nahe Gott ihm ist. Und um so viel mehr ist er selig, je mehr er dies erkennt, ...
     Das ist durchaus Gottes Absicht, daß die Seele Gott verliere! Denn solange die Seele noch einen Gott hat, einen Gott erkennt, von einem Gott weiß, solange ist sie noch von Gott entfernt. Darum ist es gerade Gottes Verlangen, sich selber zunichte zu machen in der Seele, auf daß die Seele sich selber verliere. Denn daß Gott "Gott" heißt, das hat er von den Kreaturen. Erst als die Seele Kreatur ward, hatte sie einen Gott; wenn sie ihre Kreatürlichkeit wieder verliert, so bleibt Gott in sich selber, was er ist. Und das ist die größte Ehre, welche die Seele Gott erweisen kann: daß sie ihn sich selber überlasse und seiner ledig stehe. ...
     Ebenso wie die Gottheit namenlos ist und ohne Benennung, so ist auch die Seele namenlos, wie Gott; denn sie ist ja dasselbe, was er ist.
     Alle unsere Vollkommenheit und all unsere Seligkeit liegt daran, daß der Mensch durch und über alle Geschaffenheit und alle Zeitlichkeit und alle Wesenheit hinausschreite und in den Grund geht, der ohne Grund ist.
     Darum bitten wir, daß wir Gottes ledig werden und nehmen die Wahrheit und genießen die Ewigkeit.


Das Sein verstehen

Das Sein hat der Mensch mit allen Dingen gemeinsam. Insofern ist es ihm nicht fremd. Er muß es sich jedoch bewußt machen und es in seinem Ansichsein zu verstehen trachten. Hierbei hat der von einer religiösen Lehre geprägte Mensch und sie lehrende, wie Meister Eckhart, das Problem, die vorgefundenen Metaphern der Transzendenz zu durchbrechen, ohne sie gänzlich verlassen zu können, will er sich den Seinen verständlich machen. Wir sollten uns davon nicht irritieren lassen, sondern uns einzig an den Sinn des Gesagten halten, denn: "Die Schrift tötet, ... aber der Geist macht lebendig."

Die Meister sagen, die Seele habe zwei Antlitze. Das oberste Antlitz schaut allezeit Gott, das untere Antlitz aber sieht etwas abwärts und ihm berichten die Sinne. Das oberste Antlitz, - das ist das Oberste der Seele, das steht in der Ewigkeit und hat nichts zu schaffen mit der Zeit, weiß nichts von der Zeit und vom Leibe. Und ich habe gesagt, daß hier etwas verdeckt liegt, was wie ein Ursprung alles Guten ist, wie ein leuchtendes Licht, das allezeit leuchtet, wie ein brennender Brand, der allezeit brennt. - Die Meister lehren, daß aus dem obersten Teil der Seele zwei Kräfte quellen. Die eine heißt Wille, die andere Vernunft. Der Kräfte Vollkommenheit wird bedingt durch die oberste Kraft: die Vernunft. Und die kann nimmer ruhen! Sie will Gott nicht, sofern er der heilige Geist ist und auch nicht, sofern er der Sohn ist, - sie flieht den Sohn. Sie will auch Gott nicht, sofern er Gott ist! Warum? Weil er da noch Namen hat. Und gäb' es tausend Götter, sie bräche sich immer weiter hindurch! Sie will ihn ja dort, wo er keinen Namen hat, sie will etwas Edleres, etwas Besseres, als Gott, sofern er noch Namen hat. Was will sie denn? Sie weiß nicht, - sie will ihn, sofern er Vater ist. Darum spricht Sankt Philippus: "Herr, zeige uns den Vater, so finden wir Genüge." Sie will ihn, sofern er ein Mark ist, aus dem die Güte quillt; sie will ihn, sofern er ein Kern ist, aus dem die Güte fließt; sie will ihn, sofern er eine Wurzel ist, eine Ader, in der die Güte entspringt, - da allein ist er Vater".

Wann empfängt die Seele das ewige Wort?

Der himmlische Vater spricht ein Wort und spricht das ewig und in dem Wort verzehrt er alle seine Macht und spricht in dem Wort seine göttliche Natur allzumal und aller Kreatur. Das Wort liegt in der Seele verborgen, sodaß man es nicht weiß und nicht hört, wenn ihm nicht Raum gemacht wird in dem Grunde des Hörens, - eher wird es nicht gehört; vielmehr: alle Stimmen und alle Laute, die müssen hinweg, da muß eine lautere Stille sein, ein Stilleschweigen.
     Alles was nun der Vater hat und ist - die Abgründigkeit göttlichen Wesens und göttlicher Natur -, das gebiert er alles in seinem eingeborenen Sohn. Das ist es, was der Sohn vom Vater hört, das hat er uns geoffenbart, damit wir in derselben Weise Sohn werden.

Und da muß ein Ruck durch die Seele gehen

Was Gott in sich selber sei, dazu kann niemand kommen, er werde denn in ein Licht gerückt, das Gott selber ist.
     Wenn der Mensch in sich selber geht, so findet er Gott in sich selber. Denn wenn Gott will, daß ich sei, so muß er mir Wesen geben. Nun kann aber kein Wesen ohne Gott bestehen, und darum, will er, daß ich Wesen habe, muß er mir sich selber geben.
     Der Mensch soll sich nicht begnügen mit einem gedachten Gott; wenn der Gedanke vergeht, so vergeht auch der Gott. Viel mehr! Man soll haben einen wesentlichen Gott, der erhaben ist über den Gedanken des Menschen und aller Kreatur. ... In ihm ist eine abgeschiedene Abkehr und ein inneres Gestalten seines geminnten, gegenwärtigen Gottes.
     Er muß die Dinge zu durchbrechen lernen und seinen Gott darinne greifen ... Also soll auch der Mensch von Gottes Gegenwart durchdrungen, soll mit der Form seines geminnten Gottes durchformt und in ihm eingewest sein, daß ihm seine Gegenwärtigkeit leuchte ohne alles Bemühen, daß er die Urbilder aller Dinge erfasse ...
     ... denn dieser Grund ist eine reine Stille, die in sich selber unbeweglich bleibt, und von dieser Unbeweglichkeit werden alle Dinge bewegt. Von ihr empfangen alle die ihr Leben, die unter der Leitung der Vernunft leben und sich in sich selbst zurückgezogen haben.


Vom Sein zum Bewußt-Sein

Solange der Mensch Zeit und Raum und Zahl und Meinung in sich trägt, so ist er nicht im Rechten, und Gott bleibt ihm ferne und fremd.
     Soll ich das wahre Sein erkennen, so muß ich es erkennen, wo es Sein in sich selber ist, nämlich in Gott, nicht da, wo es bereits zerteilt ist in den Kreaturen. In Gott allein ist das ganze göttliche Sein. In einem Menschen ist nicht die ganze Menschheit, denn ein Mensch ist nicht alle Menschen. In Gott aber erkennt die Seele die ganze Menschheit und alle Dinge in höchster Wirklichkeit, denn sie erkennt sie hier nach dem Sein.
     Sein ist etwas so Lauteres und Erhabenes, etwas so Gottverwandtes, daß niemand Sein geben kann, denn Gott allein. Gottes eigenster Besitz ist Sein. Ein Meister sagt: Eine Kreatur kann wohl der anderen Leben geben. Aber daß überhaupt etwas ist, das liegt ganz allein am Sein. Sein ist der oberste Begriff. Alles, was einen Mangel hat, das ist ein Abfall vom Sein. Unser ganzes Leben sollte ein Sein werden! Soweit unser Leben ein Sein ist, soweit ist es in Gott.
      Alle Kreaturen aber haben kein Sein, denn ihr Sein hängt an der Gegenwart Gottes. Kehrte Gott sich nur einen Augenblick ab, so würden sie zunichte. ... Gott muß sich selber mir zu eigen geben, so wie er selbst sein eigen ist, oder mir wird überhaupt nichts zuteil und nichts will mir mehr schmecken.
     Es ist Eines und ist viel zu unnennbar, denn daß es einen Namen haben könnte, ist viel zu unbekannt, denn daß man es erkennen könnte. Könntest du dich selber vernichten auch nur für einen Augenblick, ja, ich sage noch für kürzer, denn einen Augenblick, so wäre dir alles eigen, was es in sich selber ist.
     Da ich noch stand in meiner ersten Ursache, da hatte ich keinen Gott, - da gehörte ich mir selber. ... Als ich aber aus meinem freien Willen herausging und mein geschaffenes Wesen empfing, da hatte ich einen Gott; denn ehe die Kreaturen waren, war Gott nicht Gott: er war, was er war. ... sondern in den Kreaturen war er Gott.
     Der Geist muß emportreten über alle Zahl, muß alle Vielheit durchbrechen, dann wird er auch von Gott durchbrochen. ... Gott leitet solch einen Geist in die Wüste, in die Einheit seiner selbst ... solch ein Geist hat kein Warum mehr ...
     Das Höchste, was der Mensch lassen kann, das ist, daß er Gott um Gottes willen lasse. Nun ließ Sankt Paulus Gott um Gottes willen: er ließ alles das, was er von Gott nehmen und alles, was Gott ihm geben konnte. Da er das ließ, da ließ er Gott um Gottes willen - da blieb ihm Gott, nicht nach Art eines Empfangens oder eines Gewinnens, sondern in seinem lauteren Sein - wie Gott in sich selber ist.

"Gott um Gottes willen lassen" heißt: alle Adaptionen des Seins an menschliches Verstehen - wie z.B. "Gottvater", "Gottsohn" und "Heiliger Geist" - zu durchbrechen und das Sein in seiner eigenen Natur zu erfassen und es so zum Bewußt-Sein zu bringen. In dieser Erweiterung des Bewußtseins erkennt sich der Schauende als das Bewußtsein des Seins. Da werden Sätze möglich wie: "Da ich noch stand in meiner ersten Ursache, da hatte ich keinen Gott, - da gehörte ich mir selber." - Diese Natur ist, wegen ihrer Unvergleichbarkeit, "viel zu unnennbar", weshalb auf die Vokabel von "Gott" nur schwer verzichtet werden kann, will man sich verständlich machen, um was es geht. Hierdurch entsteht zwangsläufig eine scheinbar paradoxe Aussage, wie "Gott um Gottes willen lassen", die es in ihrer von außen kommenden Bedingtheit zu verstehen gilt.


Schauendes und wirkendes Leben

Meister Eckhart sprach, kein Mensch vermöge in diesem Leben so weit zu kommen, daß er sich nicht zu betätigen brauchte in äußeren Werken. Denn wenn der Mensch sich dem schauenden Leben überläßt, so kann er vor lauter Fülle nicht mehr an sich halten, er muß ausgießen und muß sich als tätig erweisen in wirkendem Leben. ... Und ebenso kann kein Mensch Tugend haben, der die Tugend nicht ausübt, wenn Zeit und Gelegenheit es wollen. Und darum: Die, welche sich nur im schauenden Leben üben und nicht auch in äußeren Werken, sondern sich ganz und gar abschließen vom äußeren Werk, die sind allesamt betrogen und mit ihnen steht es falsch. Da sage ich, der Mensch, der kann und soll sich wohl frei machen von allen äußeren Werken, solange er im Schauen ist; danach aber soll er sich betätigen in äußeren Werken, weil niemand sich allezeit unausgesetzt dem schauenden Leben zu überlassen vermag, - und nun wird das wirkende Leben ein Halt des schauenden Lebens.
     Man muß lernen, mitten im Wirken ein lediges Gemüt zu behalten.
     Der Mensch nehme eine gute Weise an und bleibe immer dabei und lege alle gute Weise hinein und achte nur darauf, daß sie von Gott genommen sei, und beginne nicht heute das und morgen ein anderes, und sei so ohne Sorge, daß er in seiner Art etwas versäume.
     Alles was in Ordnung und mit Maß geschieht, ist des Lobes wert. Das kleinste Werk, wenn es in Ordnung und mit Maß getan wird, gibt Ruhe inwendig und auswendig.
     Der Mensch gewinnt nimmer wahren Frieden mit Gott, er habe denn Frieden mit seinem Nächsten. Aber es ist ein kleines Ding, wenn einer Frieden hält mit einem, der ihm gleich ist, denn Gleichheit ist ein Beweggrund des Friedens. Aber daß man Friede hält mit ungleichen Leuten, die einen entgegen sind, das ist edler, denn da gibt es keinen Beweggrund des Friedens als die göttliche Liebe allein.


Lust am Leben

Es ist kein Ding so begehrlich unter allen Dingen als Leben. Und es ist kein Leben so böse und so beschwerlich, der Mensch möchte dennoch leben. ... Warum ißt du? Warum schläfst du? Darum daß du lebest. Warum begehrst du nach Gut und Ehren? Das weißt du gar wohl. Aber warum lebst du? Um des Lebens willen, und weißt doch nicht, wozu du lebst. So begehrlich ist das Leben in sich selber, daß man es um seiner selbst willen begehrt.
     Leben ist edeler denn Sein: der Baum lebt, der Stein dagegen hat nur ein Sein.
     Wäre ich in einer Wüstenei allein, wo es mich graute, und ich hätte da bei mir ein Kind, so verginge mir alles Grauen und ich fände Kraft: so edel und froh ist das Leben.


Über das Erkennen

Jedes Bild, das der Mensch empfängt, muß notwendig von außen durch die Sinne kommen. Darum ist der Seele auch kein Ding so unbekannt als sie sich selber.
     Die Meister lehren, eine andere sei die Kraft, vermöge deren das Auge sieht, eine andere die Kraft, vermöge deren es erkennt, was es sieht.
     Was sich bestimmt ausdrücken läßt, das muß von innen heraus kommen und von seiner inneren Form herleiten.
     Niemals kann man ein Ding recht in sich selbst erkennen, wenn man es nicht in seiner Ursache erkennt. Niemals kann es Erkenntnis heißen, wenn sie nicht das hervorbringende Ding erkennt.
     Wenn der Mensch der Dinge Ursache weiß, so ist er dieser Dinge müde und strebt, wieder ein anderes kennen zu lernen; er hat immer Sorge, diese Dinge zu wissen, und hat doch dabei kein Bleiben.
     In Wahrheit, aller Geschöpfe Wissen und deine eigene Weisheit vermögen dich nicht dazu führen, daß du Gott in seiner Göttlichkeit verstehst. Willst du Gott in seiner Göttlichkeit verstehen, so muß dein Wissen in ein reines Nichtwissen kommen und in ein Vergessen deiner selbst und alles Geschaffenen. - Und wie es nützlich ist, dieser Möglichkeit nachzugehen und sich ledig und frei zu halten und ganz dieser inneren Dunkelheit und diesem inneren Unwissen nachzufolgen und nachzuhangen und weiterzuspüren und nicht umzukehren, so wird es dir möglich, den zu gewinnen, der alle Dinge ist.
     Die Meister sagen: Sein und Erkenntnis sei durchaus Eines; denn was nicht ist, das erkennt man auch nicht, was aber am allermeisten Sein hat, das erkennt man auch am allermeisten. Weil denn Gott ein überschwengliches Sein hat, darum macht er auch alle [Gottes-]Erkenntnis überschwenglich.


Die unbedachte Wahrheit

Der heidnische Meister Seneca spricht: "Von großen und hohen Dingen soll man mit großen und hohen Sinnen reden und mit erhabener Seele." Man wird auch sagen, man solle solche Lehren nicht für Ungelehrte sprechen und schreiben. Dazu bemerke ich: Darf man ungelehrte Leute nicht belehren, so wird nimmer jemand belehrt, kann überhaupt niemand leben und sterben lernen. Denn darum lehrt man ja die Ungelehrten, daß sie aus Ungelehrten Belehrte werden. ... Der minnigliche, milde Gott, der die Wahrheit selber ist, der gebe mir und allen denen, die dieses Buch lesen werden, daß wir der Wahrheit in uns gewahr werden!
     ... denn ich sage euch bei der ewigen Wahrheit: wenn ihr nicht selber der Wahrheit gleich werdet, von der wir hier sprechen, so könnt ihr mich nicht verstehen. ... Denn es ist eine unbedachte Wahrheit, die da kommen ist aus dem Herzen Gottes unmittelbar.
     Könntet ihr mit meinem Herzen denken, ihr verstündet wohl, was ich sage, denn es ist wahr, und die Wahrheit redet sich selber.

     
Doch: "Wer diese Rede nicht versteht, der beschwere sein Herz nicht damit."

Quellen:
Meister Eckharts deutsche Predigten und Traktate, Ausgewählt, übertragen und eingeleitet von Friedrich Schulze-Maizier, Leipzig Insel-Verlag 1927/28, DER DOM Bücher Deutscher Mystik
Meister Eckhart, Ein Breviarium aus seinen Schriften, Ausgewählt und in unser Deutsch übertragen von Alois Bernt, Insel-Verlag 1951


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