Die Subjektivität meistern

Wege zur Objektivität

Ein erstes Resümee



Inhaltsverzeichnis nach der Einführung

„Die Befreiung von den Willkürlichkeiten der Naturbeschreibung wird nicht dadurch erreicht, daß man sie in naiven Absolutismus bestreitet, sondern allein dadurch, daß man sie als Willkürlichkeiten erkennt und formuliert; der Weg zur objektiven Erkenntnis geht allein durch das Bewußtwerden der Subjektivität in unseren Erkenntnismethoden.“ (H. Reichenbach)¹

Die Göttin zu Parmenides: "So sollst du denn alles erfahren: der wohlgerundeten Wahrheit nie erzitterndes Herz und das Scheinwesen menschlicher Setzungen, die da ohne Verlaß ist und ohne Wahrheit. Aber dennoch sollst du auch das erfahren, wie das nur nach dem Anschein Gesetzte geltend wird und solche Geltung alles mit ihrem Scheinwesen hat durchdringen müssen." Der Schein (Anschein) ist immer auf Seiten des Beobachters, der durch seine Setzungen die Dinge sich verständlich macht. So entsteht z.B. der Eindruck von Bewegung durch Setzung eines Bezugspunktes, zu dem hin er gemäß seiner Sehgewohnheit die Lage eines Objekts zu verschiedenen Zeiten unwillkürlich vergleicht, während ein unbelebtes Objekt selbst für sich lediglich in seinem Zustand verharrt (Newton, 1. Axiom). Was gibt es daran nicht zu verstehen???

Einführung

Helmut Hille In „Deduktion aus „Erfahrung“ Text (I/A3) habe ich mich kurz mit der Auffassung Poppers auseinandergesetzt, der wissenschaftliche Fortschritt folge dem evolutionären Muster von Versuch und Irrtum, so daß zwischen der Arbeitsweise einer Amöbe und der eines Forschers kein prinzipieller Unterschied wäre. Dabei habe ich auf eine Methode hingewiesen, die Ed Dellian Deduktion aus Erfahrung genannt hat. Sie macht sich den Umstand zunutze, daß das beobachtbare Besondere Ausdruck des Allgemeinen unter den Bedingungen der jeweiligen Situation ist. So fallen Gegenstände - infolge ihres Luftwiderstandes - im Schwerefeld der Erde verschieden schnell - doch man kann zeigen, daß im Vakuum das Fallen nichts mit der Form und dem Gewicht der fallenden Sache zu tun hat, sondern nur mit der Stärke des Gravitationsfeldes am jeweiligen Ort der Sache. Der Forscher muß also aussagefähige Fakten finden und aus ihnen, mit Hilfe von Logik und Mathematik, den in ihnen inkludierten allgemeinsten Satz und den allgemeinsten mathematische Ausdruck erarbeiten. Im Fall der Schwerkraft ist dieser bis heute nicht gezogen worden - nämlich, daß das Fallen überhaupt nichts mit der fallenden Sache zu tun hat, weshalb es völlig unerheblich ist, ob sie Masse oder Ladung besitzt oder ob es sich um Energie, Materie oder Antimaterie oder Strahlung handelt -, ein Schluß, dem die traditionelle Sichtweise des Phänomens entgegensteht, nur Masse wäre „schwer“. Aber „Masse“ ist nur das Maß der Schwere und keine Sache.

Ferner habe ich bereits in meinem ersten Text „Rationale Theorien als Kriteriengeber“ Text (I/A2) gezeigt, daß vor allem Vernunftkriterien, „Prinzipien“ genannt, die Vernünftigkeit von Wissen sichern können. Ein Prinzip, z.B. das Kausalitätsprinzip, gewinnen wir auf dem Hintergrund unserer gesamten Erfahrung und es hat eine innere Logik, die es uns im Grunde unseres Denkens durch sich selbst verständlich macht. Und da die Vernunft unser höchstes Vermögen ist, ist es sinnlos, nach einem Wissen jenseits von Vernünftigkeit zu fragen. Man kann zwar nicht ausschließen, daß uns auch in Intuitionen, Phantasien und Glaubensvorstellungen Wissen vermittelt wird: doch ohne ein Kriterium, das es uns ermöglicht, zwischen Wissen und Phantasie zu unterscheiden, sind sie keine Quelle des Wissens, auch wenn sie sich in einem begrenzten Kontext bewähren. Die Vernunft fordert jedoch, das Ganze unserer Erfahrung zu bedenken und durchgehend konsistente Lösungen zu finden.

Darüber hinaus ist es der Vernunft auch noch möglich - durch Bedenken der Subjektivität -, zwischen dem Schein, den der Beobachter durch seine Herangehensweise an die Dinge erzeugt, und dem Sein, wie die Dinge für sich selber sind und das ihre Wirksamkeit ausmacht, zu unterscheiden. Zahlreiche Hinweise zu dieser Unterscheidung von Sein und Schein finden sich in Teil I und II dieser Homepage, insbesondere in Zusammenhang mit Parmenides und Newton. Schon jedes Wahrnehmen ist eine Mischung aus objektiven und subjektiven Komponenten, was bereits die eleatische Denkschule erkannte, und was Demokrit und später John Locke „die sekundären Qualitäten“ nannte. Diese sind als ein Drittes etwas Neues, zur Welt Hinzutretendes. Durch den Beobachter werden elektromagnetische Wellen zu „Licht“, Schwingungen der Luft zu „Geräuschen“, Molekülstrukturen zu Gerüchen usw. Ferner entsteht der Eindruck von Ruhe und Bewegung unbelebter Dinge dadurch, daß der Beobachter ihr Verhalten unwillkürlich in Beziehung zu einem Koordinatensystem setzt und es nach der am Lebendigen entwickelten Sehweise beurteilt, während die unbelebten Dinge - über die Kategorien des Beobachters völlig erhaben - lediglich in ihrem Zustand verharren (solange keine Kraft an sie angreift). Ein Gegenstand hat selber keine Eigenschaft „Geschwindigkeit“.

Newton war klar geworden, daß es physikalisch nicht auf die vom menschlichen Erkenntnisapparat hergestellten Beziehungen und gesehenen Zustände ankommt, daß sich aber bei der Änderung einer Geschwindigkeit und/oder Richtung einer Bewegung eine objektiv einwirkende Kraft zu erkennen gibt. Indem er darüber hinaus die zur genauen rechnerisch Erfassung der Geschwindigkeitsdifferenz erforderliche Differentialrechnung entwickelte, wird das Denken eines jeden Anwenders seiner Mechanik, die so ztur Dynamik wurde, sowohl in einzigartiger Weise objektiviert, als auch in die Lage versetzt, mit Fakten zuverlässig umzugehen - unabhängig davon, ob die Gründe dafür von ihm verstanden werden. Viele halten ihren erfolgreichen Umgang mit mechanischen Fakten für ein Verdienst ihrer eigenen Intelligenz und Objektivität und sehen gar nicht, welcher Voraus-Setzungen es hierzu bedurfte. Daher ist Newton heute der am meisten unterschätzte Physiker. Aber erst durch die Erkenntnis der Beobachterrolle und ihre Berücksichtigung und durch sorgfältigt abgeklärte Prinzipien kann jenes höchste objektive Wissen entstehen, zu dem wir als Vernunftwesen fähig sind. Das ist einerseits erheblich mehr, als kritische Rationalisten überhaupt zu träumen wagen, weil sie auf die Verlegenheitsmethode von Versuch und Irrtum fixiert sind. Andererseits ist aber auch weniger, als die unhinterfragte naive Annahme von der Möglichkeit eines subjektunabhängigen Wissens erhoffen läßt, das jedoch ein Widerspruch in sich selber ist, denn alles Wissen ist eine Adaption von Welt an einen Beobachter und findet an seinem kognitiven Apparat seine Grenze. Es gibt die Welt, den Beobachter und als ein Drittes sein Wissen über sie, das es ihm ermöglicht, mit ihr in einer für ihn nützlichen Weise umzugehen. Was soll daran nicht zu verstehen sein?

Der folgende Text ist eine Zusammenstellung und Auswertung von in Teil I und II publizierten erkenntniskritischen Einsichten nach dem Stand 1998 und ein Vorgriff auf eine umfassende biologische Erkenntnistheorie (wie sie nun in Text (III/3) "Das Verstehen des Verstehens" vorliegt). Er will einen Weg jenseits von wissenschaftlichem Absolutismus und philosophischem Relativismus aufzeigen, ohne dabei Kompromisse zu machen. Philosophie und Wissenschaft sind keine Gegensätze sondern zwei sich ergänzende Vorgehensweisen eines Denkens, daß sich ebenso um Welt- wie um Selbstverständnis bemüht.

Ohne Selbstverständnis können wir nicht wissen, was unser Wissen Wert ist.



Inhalt:
Die Erkenntnissituation
Wie wir uns orientieren
Ohne Vernunftkriterien kein vernünftiges Wissen
Beispiel einer rationalen Theorie: die klassische Mechanik
Parmenides Weltformel für alles
Grundlagen des quantitativen Wissens
Einsichten statt Postulate
Literatur und Anmerkungen
Resümee und Danksagungen


Die Erkenntnissituation

Was Reichenbach in seinem Zitat anspricht ist die Situation, in der unser Erkennen natürlicherweise steht: Nur Subjekte, sprich lebendige Wesen, haben Erkenntnisse, die sie gemäß ihren Fähigkeiten gewinnen, die also von diesen abhängen. Ihre Sicht der Dinge ist sowohl an die subjekteigenen Fähigkeiten gebunden, als auf ihre lebenswichtigen Interessen bezogen. Und nur solche Fähigkeiten, die verhalfen, das artspezifische Überleben zu sichern, konnten sich in der Evolution entwickeln. Es ist also nicht möglich, die Subjektivität der Erkenntnismethoden einfach abzulegen - denn dann hätten wir keine Methode mehr und Erkenntnis wäre unmöglich! „Subjektiv“ heißt - ohne jede Wertung - „dem Subjekt zugehörend“ bzw. „vom Subjekt so gesehen“, wie die sinnlichen Phänomene bzw. die Eigenschaft einer Sache, die sie zwar für das Subjekt, jedoch nicht für sich selber hat. Während z.B. für uns ein physikalischer Körper, aufgrund unserer am Lebendigen geübten Sehweise, in Ruhe oder Bewegung ist, verharrt er - über so Biomorphes wie Ruhe und Bewegung völlig erhaben - in Wahrheit nur in seinem Zustand (solange keine Kraft an ihm angreift), wie uns Newton zu lehren versuchte. Schon dieses kleine Beispiel zeigt, daß die beobachterneutrale Beobachtung eine Illusion ist. Wenn wir daher unser Erkennen und Wissen objektivieren wollen, also wissen möchten, was eine Sache für sich selber ist - denn nur ihr eigener Zustand ist für Folgen relevant -, bleibt es uns nicht erspart, uns die subjektiven Elemente in den Erkenntnismethoden bewußt zu machen und zu lernen, mit ihnen in möglichst unschädlicher Weise umzugehen. Das heiße ich: die Subjektivität meistern. Dabei teile ich im Prinzip die Analyse der philosophischen Relativisten, die auch wissenschaftliche Aussagen in Abhängigkeit von Sprache, gesellschaftlichen Strukturen und Zeitgeist (aber vor allen Dingen von den Erkenntnishilfen) sehen, die das Verstehen der ihr zugehörigen Individuen prägen (weshalb Parmenides Aussagen nach dem gewöhnlichen Verstand „doxa“ nannte); doch ich wehre mich auf entschiedendste dagegen, daß dieser Zustand hingenommen werden muß und immer hingenommen wurde. Vielmehr gilt es in Anbetracht unserer Möglichkeiten zu erarbeiten, "was unter ‘Objektivität’ sinnvollerweise verstanden werden kann." (F. Mühlhölzer)2)

So einfach und klar der Weg zu sein scheint, um das Ziel - die Objektivierung des Erkennens - zu erreichen, so schwer ist er offensichtlich zu gehen, schon weil niemand die gewohnte beutegreiferische Fitneß im Umgang mit der Welt ablegen möchte. Wissenschaftsgläubige geraten in Panik, wenn jemand Zweifel an der Objektivität der Wissenschaft äußert und/oder von ihren Grenzen spricht, obwohl gerade die Ergebnisse der Wissenschaft selbst nur den Schluß zulassen, daß niemand dem Menschen die Garantie gegeben hat, daß sein evolutionäres Erbe ihn zu mehr als einer menschlichen Sicht der Dinge befähigt. Aber er hat als vernunftbegabtes reflektierendes Wesen eben auch die Möglichkeit zu analysieren, auf welchen Wegen und aufgrund welcher Prämissen er zu seinen Urteilen kommt, soweit es ihm nicht an der persönlichen Fähigkeit zur Selbstdistanz und an der Lauterkeit seines Strebens nach Erkenntnis fehlt. Liegen beide Fähigkeiten vor, dann ist es ihm doch möglich, unsinnige Annahmen zu durchschauen und sein Wissen zu objektivieren, d.h. sich der Sache geistig zu nähern, wie es das Ideal der Wissenschaft ist. Freilich ein objektives, d.h. vom Subjekt unabhängiges Wissen wäre wie eine Rede ohne Sprecher. Ohne ein Subjekt gibt es kein Wissen, so wie es ohne einen Hörenden keine Geräusche sondern nur schwingende Luft gibt. Wissen ist immer ein Mittleres, Welt an ein Subjekt Vermittelndes. Das ist der Charakter und der Sinn von Wissen: zu wissen, wie mit der Welt mental und real umzugehen ist, um in ihr bestehen zu können. Denn entscheidend für das Überleben ist nicht, daß wir in uns eine der Welt angemessene Repräsentation vorfinden, sondern eine uns angemessene Repräsentation der Welt, die auf unsere Verständigkeit und Handlungsmöglichkeiten hin abgestimmt ist, wie dies schon die Idee der Evolution nahelegt. Es ist an der Zeit, unsere Welt, mit der wie umgehen, als eine großartige Interpretation des Gehirns zu begreifen. Dazu gehört, daß wir nicht alle von ihm erzeugten Sichtweisen unkritisch als bare Münze nehmen, denn dann laufen wir ihnen immer nur hinterher und werden nie Herr im eigenen Haus sondern bleiben die Affen unseres neuronalen Erbes. Humanismus heißt daher für mich auch, die geistigen und sittlichen Kräfte des Menschen durch Aufklärung des tierischen und steinzeitlichen Erbes zu fördern.

Wie wir uns orientieren

Wer auch in der Wissenschaft nur seinen im Alltag mehr oder weniger bewährten Auffassungen folgt, ohne sich um Aufklärung der Beobachterrolle und der mit ihr verbundenen subjektiven Erkenntnismethoden zu bemühen, verfehlt das Ethos der Wissenschaft. Sich einfach darauf zu verlassen, daß die Dinge schon so sein werden, wie sie uns erscheinen, was man den naiven Realismus nennt, läßt jene erhöhte Sorgfaltspflicht vermissen, die von einem Wissenschaftler, der Wissen schaffen und nicht Vorurteile bestätigen soll, verlangt werden muß. Denn was wird allein schon dadurch an neuen Eigenschaften in die Welt gesetzt, daß Lebewesen über ein vergleichendes Gedächtnis verfügen! Ohne das vergleichende Gedächtnis gäbe es z. B. nichts, was man Ortsveränderung und Zeit nennen könnte! Der Ort einer Sache ist etwas, was ihr vom Beobachter automatisch dazugegeben wird - unabhängig davon, ob zwischen der Sache und dem Ort eine Sachbeziehung besteht -, weil er, zu seiner Sicherheit, alle Dinge seines Gesichtsfelds unwillkürlich miteinander in Beziehung setzt um ihr zukünftiges Verhalten voraussehen zu können. Und wenn er, dank seines Erinnerungsvermögens, eine Sache den Ort wechseln sieht, nennt er sie „bewegt“, auch wenn sich nur eine vom Beobachter gesehene zufällige Relation geändert hat, z.B. die zwischen einer Kirchturmspitze und vorbeiziehenden Wolken, während am Objekt selbst - und das eben heißt „objektiv“ - nichts gefunden werden kann, woran es sich in den Zuständen von Bewegung und Ruhe unterscheidet. Und wenn der Beobachter, dank seines vergleichenden Gedächtnisses, seine Erlebnisse nach „früher“, „später“ und „jetzt“ ordnet, gewinnt er den Begriff der Zeit - eine zweckmäßige Sehweise, die er an die Dinge heranträgt. Wie es ohne Augen kein Licht und keine Farben und ohne Nasen keine Gerüche gibt, genauso gibt es ohne ein Gedächtnis keine Bewegung, keine Geschwindigkeit und keine Zeit. Es sind dies sekundäre Qualitäten, die durch die subjekteigene Art der Wahrnehmung von Objekten entstehen. Ebenso entstehen die drei Dimensionen des Raumes, indem der Beobachter das Chaos seiner Eindrücke, das Durcheinander, zu seiner Orientierung unwillkürlich nach den Kriterien des Neben-, Über-, Hintereinander ordnet und schließlich noch die Zeit, als die Dimension des Nacheinanders, dazugibt, d.h. er orientiert sich nicht in Raum und Zeit sondern mit Raum und Zeit. Im Grunde ist dies weder neu, noch schwer zu verstehen. Doch das Gehirn liebt es offensichtlich nicht, Einblick in seine interpretierende Arbeitsweise zu gewähren, weshalb selbst Gehirnforscher sich von ihm überlisten lassen. Hierzu ein Beispiel:

In Kapitel 9 des Buches „Geheimnisvoller Kosmos Gehirn“3) schreibt der Neurobiologe Ernst Pöppel über die Organisation des Erlebens nach dem Muster der Zeit. Auf der ersten Seite des Kapitels (S.160) wird gefragt, „wie Zeit in unser Bewußtsein, in unser Gehirn hineinkommt.“ Dann wird sehr sorgfältig die Entstehung der „fünf elementaren (Zeit-)Phänomene“ analysiert (Gleichzeitigkeit, Ungleichzeitigkeit, Aufeinanderfolge, Gegenwart und Dauer) und ganz am Ende des Kapitels folgt die richtige Einsicht: „Das Gedächtnis erlaubt uns somit Vergleiche, und nur über das Gedächtnis wird uns das Bewußtsein des Wechsels in der Zeit und damit letzten Endes auch der Begriff von Zeit ermöglicht.“ Der Begriff von Zeit wird also durch das vergleichende Erinnern ermöglicht und kommt nicht von außen in das Gehirn hinein und ist somit kein konstitutiver Teil der Welt, wie dies heute in der Physik gesehen wird. Während also die klinische Forschung die objektivistische Sicht von Zeit notwendig widerlegt und nur den Schluß zuläßt, daß sich der Mensch nicht in der Zeit sondern mit ihr in der Welt orientiert, wird sie doch zuerst aufgegriffen und als Forschungsprogramm hingestellt. Nur der aufmerksame und kritische Leser erkennt dann am Ende, daß mit einem falschen Ansatz begonnen wurde und fragt sich, warum nach seiner Widerlegung an ihm festgehalten wird, bzw. er sieht, wie auch dieser Forscher sich in seiner Darstellung der Forschungsergebnisse dem objektivistischen Paradigma wider besseren Wissens verpflichtet fühlt, wovon auch viele andere Stellen des Buches Zeugnis geben. Ein dem Stand der Forschung unangepaßtes Denken und damit Sprechen sorgt für die Negierung der Forschungsergebnisse schon im Moment ihrer Darstellung durch den Forscher selbst. Man kann sagen: der Forscher kann einfach nicht glauben, was er weiß. In dem Buch „Geheimnisvoller Kosmos Gehirn“ wird die objektivistische Sicht soweit getrieben, daß für den Leser die Frage entsteht, wieso wir überhaupt noch ein Gehirn brauchen, wenn die wichtigsten Dinge, die es generiert, wie Informationen und Reize, auch ohne es existieren und offen gelassen wird, wo denn die Bedeutungen herkommen, die wir mit den hereinströmenden Daten verbinden. Anläßlich eines Empfangs im Senatssaal zur Eröffnung des Humanwissenschaftlichen Zentrums (HWZ) der Ludwig-Maximilians-Universität München im Januar 1998 hat Pöppel, der 1. Vorsitzender der neuen Einrichtung ist, dem Autor in einem persönlichen Gespräch ausdrücklich bestätigt, daß er von der Objektivität der Zeit überzeugt ist, so daß es sich hier nicht um ein Mißverständnis oder gar um eine Unterstellung meinerseits handelt. Da kann man nur hoffen, daß im neuen Forschungszentrum interdisziplinär erarbeitetes Neues am Ende nicht ebenfalls von der gewohnten Sicht der Dinge wieder kassiert wird.

Ohne Vernunftkriterien kein vernünftiges Wissen

Am Ende seines Buches „Der Traum von der Einheit des Universums“4) plädiert Weinberg sehr richtig, daß der Mensch die ihm zukommende Rolle, als ein erwachsenes und rationales Wesen annehmen und sich nicht dem Wunschdenken hingeben sollte und daß er ein vernünftiges Weltbild braucht. Das ist eine Forderung, die sicher alle vertreten, die um ein rationales Verständnis der Welt ringen. Wie aber könnte uns die Wissenschaft da helfen, wenn es nach Weinberg nicht möglich ist „wissenschaftliche Denkweisen mit rationalen Argumenten zu begründen“ und wenn unser Schönheitssinn das Kriterium für die Wahrheit von Theorien wäre, wie er ausführlich erläutert? Ich möchte hier einen Gegenentwurf vorstellen, den ich für die 62. Tagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft anhand mehrerer existierender Beispiele erarbeitet habe. Er hängt zusammen mit meiner These, daß nur durch Bedenken des Ganzen erarbeitete Kriterien die Vernünftigkeit von Aussagen sichern. Ein Vernunftkriterium, auch „Prinzip“ genannt, entsteht auf dem Hintergrund der Erfahrungen eines Menschen und seiner Gruppe, und es hat eine innere Logik, die es im Grunde des Denkens verständlich macht.

Prinzipien sind der Vernunft das ihr selbst Verständliche, mit dessen Hilfe sie versteht.

So ist das Kausalitätsprinzip, daß in der unbelebten Natur nichts ohne Ursache geschieht, ein solches selbstevidentes Kriterium, das uns nach Ursachen tatsächlicher Veränderungen suchen läßt. Es ist als Prinzip weder wahr noch unwahr sondern vernünftig und kann daher von jedermann an jedem Ort nachvollzogen werden. Die scheinbar naheliegende Frage nach einer Wahrheit jenseits der Vernunft hat Frege5) so beantwortet: „Die Frage beantworten, was die Dinge unabhängig von der Vernunft sind, hieße urteilen (zu wollen), ohne zu urteilen, den Pelz zu waschen, ohne ihn naß zu machen“ Ich hätte zur besseren Verdeutlichung gesagt: „..., hieße ohne Urteilskriterien urteilen zu wollen“. Zudem ist die Vernunft unser höchstes Erkenntnisvermögen, weshalb es töricht ist, übervernünftig sein zu wollen. Wer nicht bereit ist, auf die Vernunft zu hören, muß auf als solche gekennzeichnete Offenbarungen hoffen und ihnen blindlings folgen. Wer dagegen ein sorgfältig abgeklärtes Kriterium anwendet und auf ihm aufbaut, z. B. in der Forschung oder Theorienbildung, weiß von Anfang an, warum er etwas weiß und wie vernünftig es ist. Sein Wissen ist dann kein „Vermutungswissen“, denn es hat immer diskursfähige rationale Gründe, die geprüft werden können, was eben eine rationale Wissenschaft ausmacht.

Beispiel einer rationalen Theorie: die klassische Mechanik

Einem flüchtigen Leser könnte es scheinen, als ob Newton mit einer Tatsachenbehauptungen begonnen hätte, als er in seinem 1. Axiom feststellte, daß jeder Körper in seinem Zustand verharrt, wenn keine Kraft auf ihn einwirkt. Doch sein 1. Axiom ist nicht die offenbarende Behauptung von der Existenz solcher Zustände sondern lediglich die Definition des kraftfreien Zustands durch das Merkmal des Verharrens, die auch gilt, wenn es im ganzen Universum keinen einzigen unbeeinflußten und damit verharrenden Körper gibt. Letztlich ist seine Definition eine Umkehrung - man könnte auch sagen: eine Konsequenz - des Kausalitätsprinzips, das besagt, daß in der unbelebten Natur nichts ohne materielle Ursache geschieht, woraus sich ergibt, daß bei Abwesenheit von Ursachen jede Sache von sich aus in ihrem Zustand verharrt. Das Kausalitätsprinzip, einschließlich seiner Umkehrung, ist für die Physik nicht irgendein Prinzip. Tiefer kann Physik nicht begründet werden, denn gibt es keine Kausalität bzw. beim Fehlen von Kräften ein ursachenloses Beharren im erworbenen Zustand, dann gibt es nur Willkür und somit keine Physik als prognostische Wissenschaft! Und was Voraus-Setzung einer Lehre ist, kann nicht zugleich ihr Gegenstand sein, sondern ist von ihr ohne Wenn und Aber zu akzeptieren. Wem Newtons Axiome nicht behagen, müßte uns sagen, auf welchem anderen Grundprinzip er eine alternative Lehre aufbauen möchte. Wie das Kausalitätsprinzip keine Tatsachenbehauptung sondern ein vernünftiges Kriterium, also ein Maßstab der Urteilsfindung ist, ebenso ist das ursachenlose Verharren unbedrängter Körper ein vernunftgegebenes Kriterium, das wir an die unbelebten Dinge herantragen und einfach sehen müssen, wie weit es uns bei der Erkennung von Kräften hilft. (Die Isotropie eines Geschehens, z.B. der Lichtausbreitung, halte ich für ein weiteres selbstevidentes Kriterium zur Erkennung von Kräften.) Und wenn wir die Fähigkeiten der Ratio so nüchtern sehen, wie es erforderlich ist, sie weder über- noch unterschätzen, bleiben wir unverkrampft und für neue Erfahrungen und Einsichten offen.

Doch noch weiteres Grundsätzliches steht in Newtons 1. Axiom, was bisher kaum verstanden wurde. Newton sagt sinngemäß noch, daß es für den kraftfreien Zustand egal ist, ob der Beobachter den Körper im Zustand der Ruhe oder der gleichförmig-geradlinigen Bewegung sieht. Taxierungen des Beobachters sind für das reale Verhalten von Körpern ohne Belang. Dieses hängt allein davon ab, ob eine objektive Kraft auf sie einwirkt oder nicht. Könnte die Einschätzung eines Beobachters etwas bewirken, wäre das ein Fall von Magie. Doch in einer objektiven Wissenschaft können nur Objekte/Sachen Ursache sein. Und diese sachlichen Ursachen von unsachlichen Annahmen zu unterscheiden, ist Aufgabe der Naturwissenschaft.

So hängt der Eindruck von Ruhe oder Bewegung vom gewählten Bezugssystem und den Sehgewohnheiten des Beobachters ab, denn unbelebte Dinge haben ja keine Bewegungsorgane, wodurch sich ein Zustand der Ruhe oder der Bewegung an ihnen selbst unterscheiden ließe. Als Konsequenz des 1. Axioms wird im 2. Axiom die Kraft als die auslösende Größe für die Änderung der Bewegungsgröße definiert, besser als „Beschleunigung“ bekannt. Bei der Gewinnung der neuen, abgeleiteten Vektorgröße „Beschleunigung“ wird die lediglich für uns existierende Bewegung und Geschwindigkeit eines natürlichen materiellen Körpers mathematisch eliminiert und nur die Änderung seiner Bewegungsgröße bleibt übrig, sei der Betrag der Geschwindigkeitsänderung für uns positiv oder negativ. Die so gewonnene Größe ist eine objektive Größe und ermöglicht zutreffende Voraussagen bzw. Analysen. Aus diesem Grund ist die Dynamik Vorbild einer rationalen und das Denken zugleich objektivierenden Theorie, d.h. der Dynamik ist die Objektivität immanent! Es ist daher kein Wunder, daß sie jahrhundertelang erfolgreich war - und noch immer ist und zwangsläufig auch immer sein wird, solange man sich ihrer bedient. Letztlich sind Quantenmechanik und Relativitätstheorie nur Fußnoten zu Newtons Mechanik. Auch wenn Ernst Mach noch nicht wissen konnte, zu welchen Konsequenzen die Quantentheorie führen würde, so sehe ich es als keineswegs überholt an, was er zu den von Newton erarbeiteten Grundprinzipien der Mechanik schrieb: „Newton hat sich in Bezug auf unseren Gegenstand (die Mechanik) zweierlei Verdienste erworben. Erstens hat er den Gesichtskreis der mechanischen Physik sehr erweitert durch seine Entdeckung der allgemeinen Gravitation. Dann hat er auch die Aufstellung der heute angenommenen Prinzipien der Mechanik zu einem Abschluß gebracht. Nach ihm ist ein wesentlich neues Prinzip nicht mehr ausgesprochen worden. Was nach ihm in der Mechanik geleistet worden ist, bezog sich durchaus auf die deduktive, formelle und mathematische Entwicklung der Mechanik auf Grund der Newtonschen Prinzipien.6)

Als Hinweis, daß sich hierin auch durch die Quantenmechanik nichts geändert hat, die Stimme eines heutigen Physikers. Weinberg schreibt im „Traum von der Einheit des Universums“: „...doch für das Leben der Menschen kann ich in der Quantenmechanik keinerlei Botschaften entdecken, die sie nennenswert von denen der Newtonschen Physik unterscheiden würden.“ Doch ich denke, daß heute weitgehend nicht mehr verstanden wird, daß der eigentliche Inhalt der Newtonschen Mechanik ihre erkenntniskritisch abgeklärter Umgang mit Fakten ist und nicht Aussagen zu Sachen, die sich erst als Folgerungen bei Anwendung der Prinzipien ergeben. In Definition VIII der „Philosophiae naturalis principia mathematica“ heißt es daher bei Newton: „Dieses Konzept ist genau genommen ein mathematisches. Denn über die physikalischen Ursachen und Sitze der Kräfte stelle ich keine Überlegungen mehr an.“7) Und das gilt nicht nur für die Schwerkraft. Daher ist es auch nicht möglich, seine Lehre durch Sachfeststellungen zu widerlegen, weil es in ihr um die mathematischen Konsequenzen der Prinzipien seiner Naturphilosophie geht, wie schon der lateinische Titel seines Buches besagt. Prinzipen können durch neuartige Fakten höchstens in ihre Grenzen gewiesen werden kann. Grenzen eines Ansatzes zu erkennen ist aber kein Manko desselben, sondern die Aufforderung, solche zu finden, ist einem rationalen Ansatz als Forschungsgrundsatz immanent. Die heute bei Wissenschaftlern so in Mode stehende Erklärerei von Fakten ist oft genug der Versuch, mißliebige Fakten so umzuinterpretieren, daß sie scheinbar doch zu einem ansonsten sich nicht bestätigenden Denken passen, erkenntlich an der verräterischen stolzen Schlußfolgerung: "Also hat X oder die Theorie Y doch recht." Zumindest ist alles, was über das Festellen von Fakten hinausgeht, freie Hypothese oder Naturphilosophie, was Maturana "die Poesie der Wissenschaft" nennt, die Forscher zu Poeten macht. Dies wird nicht gern eingestanden, um mit der Autorität des Wissenschaftlers sprechen zu können und nicht mit der des Poeten und Spekulanten, während Einstein immerhin in einem Brief an Born 1944 frei zugab, daß er die Gesetzlichkeiten der Welt "auf wild spekulativem Weg zu erhaschen versucht".

Daß auch die Quantenmechanik klaglos funktioniert, verdankt sie ebenfalls dem Umstand, daß in ihr die Rolle des Beobachters genauso sorgfältig bedacht wurde wie in Newtons Dynamik. Bedauerlicherweise ist es aber gerade die Bewußtmachung der subjektiven Elemente unseres Denkens und der aufgeklärte Umgang mit ihnen in Dynamik und Quantenmechanik, die all jene lautstarken Theoretiker des 20. Jahrhunderts stört, die dogmatisch der Idee einer objektiven Erkenntnis und eines objektiven Wissens ohne Vorbedingungen anhängen, das jedoch nur eine naive Illusion ist. Der Objektivist ist ein dogmatischer Subjektivist, der sich gegen die Hinterfragung seiner Überzeugungen wehrt und somit die nötige Objektivierung gerade verhindert, vielleicht um sich weiterhin in der eitlen Illusion seiner angeblichen (gottgegebenen?) Objektivität wiegen zu können. Die von ihm der Quantenmechanik nachgesagten Probleme verschwinden, wenn man Wissen und Sein unterscheidet und so nicht mehr verkennt, daß nicht Objekte ihr Gegenstand sind, sondern unser Wissen über Objekte, weshalb die Unschärfe eine Eigenschaft unseres Wissens aber nicht eine objektive Eigenschaft der Quanten ist. Die Unschärferelation gibt an, inwieweit die Aufklärung des kausalen Zusammenhangs eines mikrokosmischen Vorgangs Grenzen gesetzt sind, widerlegt jedoch nicht die Kausalität, wie Heisenberg in erster Euphorie selber glaubte, wie mir Carl Friedrich v. Weizsäcker berichtete. Quantenmechanik und Dynamik sind keine Theorien über physikalische Gegenstände, wie man immer so spricht - sie wollen nichts "erklären" -, sondern sie sind - viel besser! - zeitlos gültige Strategien8), die es uns erlauben, mit einem speziellen Kanon physikalischer Fakten brauchbare Ergebnisse zu erzielen. Daß sie dies klaglos tun, rechtfertigt sie und die menschliche Vernunft, die hier zum Tragen kam. Soweit Vereinfachungen in Rechenansätzen zu Ungenauigkeiten führen, wie z.B. Newtons Berechnung der mit einem Körper verbundenen Schwerewirkung aus seinem Zentrum heraus, obgleich sie von seinen einzelnen Teilen ausgeht, wie er explizit feststellte, sind diese durch erweiterte Ansätze behebbar und widerlegen nicht die zugrundeliegenden Prinzipien. Aber natürlich bleibt es uns immer unbenommen zu fragen, wie vernünftig sie sind. Ich denke, eine solche Auseinandersetzung wird bei richtigem Nachvollzug hier unsere eigene Vernünftigkeit stärken.

Als Beispiel dafür, wie Newton sich zuerst um die Aufklärung von subjektiven Elementen unserer Naturbetrachtung als Voraus-Setzung wissenschaftlicher Aussagen bemühte, ein Auszug aus seiner Erläuterung zu Definition III9), in der es um die Trägheit der Körper geht: „Tatsächlich übt aber der Körper diese Kraft ausschließlich bei der Veränderung seines Zustandes durch eine andere Kraft aus, die von außen auf ihn eingedrückt hat, und diese Ausübung ist von verschiedenen Standpunkten aus sowohl Widerstandskraft, als auch Impetus [Bewegungskraft]; Widerstandskraft insofern der Körper, um seinen Zustand zu bewahren, gegen die von außen eingedrückte Kraft kämpft; Impetus insofern derselbe Körper, da er sich der Kraft eines Widerstand leistenden Hindernisses nur schwer geschlagen gibt, den Zustand dieses Hindernisses zu verändern versucht. Der naive Beobachter weist von jeher Widerstandskraft den ruhenden und Impetus den sich bewegenden Körpern zu; aber Bewegung und Ruhe, wie sie gemeinhin verstanden werden, sind nur dem Standpunkt nach voneinander verschieden,...“ Während Newton das Wechselwirkungsgeschehen physikalischer Körper wie den Kampf zweier lebendiger Wesen beschreibt, um sich dem Leser verständlich zu machen, klärt er zugleich menschliche Sehgewohnheiten auf. Darüber hinaus stellt er fest, daß die Unterscheidung nach Ruhe und Bewegung nur eine Frage des Standpunktes ist und daß es daher auf diese Unterscheidung des „naiven Beobachters“ objektiv nicht ankommen kann. Aber indem Newton in seinen Definitionen sich die subjektiven, d.h. nur vom Subjekt gesehenen Eigenschaften bewußt macht und in seinen Axiomen und Gleichungen seine Folgerungen daraus zieht, gelingt es ihm, das Denken all jener zu objektivieren, die seine Axiome und Gleichungen nutzen. Es ist im höchsten Maße bedauerlich, daß diese einzigartige, für Forschung und Technik unentbehrliche Leistung Newtons heute zwar weiterhin genutzt aber so wenig verstanden wird. Es ist wohl das Vorherrschen des objektivistischen Paradigmas, welches uns übersehen läßt, daß nur solche wissenschaftlichen Aussagen in praxi Bestand haben können, die von einer richtigen Einschätzung unserer Erkenntnissituation ausgehen. Diese ist dadurch gekennzeichnet, daß sich beim Erkennen subjektive und objektive Elemente so innig miteinander verbinden, daß dabei als Drittes etwas Neues entsteht. Goethe drückte das so aus: "Das Höchste wäre zu erkennen, daß alles Faktische schon Theorie ist", was ihn als einen tiefen Denker ausweist.


Parmenides Weltformel für alles

Der Gedanke der Verbindung gegensätzlicher Elemente zu etwas Neuen wird uns schon von Parmenides (ca. 540 - 480) in seinem Lehrgedicht über die Natur übermittelt. Parmenides entstammte aus einem Geschlecht von Medizinern. Aufgrund seines biologischen Wissens und seiner philosophischen Überzeugung, daß Seiendes weder entstehen noch vergehen kann, sah er überall in der Welt das Prinzip der Mischung am Werk, durch das sich neue Ganzheiten bilden, so wie Kinder eine Mischung ihrer elterlichen Gene sind und damit etwas von den einzelnen Elternteilen Verschiedenes. Er war überzeugt, daß er damit das der Natur immanente schöpferische Prinzip beschrieb, welches durch die moderne Teilchen- und Atomphysik sowie Chemie und Genetik glänzend bestätigt wird, und das ebenso für das Erkennen gilt:

      Wie der Nous10) je die vielirrenden Glieder gemischt sieht,
      so ist er den Menschen [selbst] beigegeben:
      denn es ist immer dasselbe,
      was da als Art der Glieder [auch] in den Menschen sinnt;
      bei allem und jeden - das Mehr der Mischung nur ist ihnen Gedanke.“11)

So ist auch unser Wissen ein Ergebnis dieses schöpferischen Prozesses der sich durchhaltenden innigen Mischung gegensätzlicher Elemente, also etwas Neues, von den Ausgangskomponenten Verschiedenes, damit weder rein objektiv noch rein subjektiv, das wir eben nur durch das ins Kalkülstellen ihrer subjektiven Komponenten objektivieren können. Parmenides Weltformel für alles macht ferner die Erfahrung verständlich, warum ein Ganzes (ein Atom, ein Molekül, ein Organismus, eine Sozität) in seiner Wirksamkeit mehr ist, als die Summe seiner Teile und daß der Reduktionismus bestenfalls die halbe Wahrheit ist, die zur Unwahrheit verkommt, wenn der Reduktionist die durch „Mischung“ neu entstehenden emergenten Eigenschaften zu leugnen versucht.

Grundlagen des quantitativen Wissens

Wir stehen heute vor der paradoxen Situation, daß die messenden Wissenschaften ihre Methoden oft genug schon bis an die Grenzen des physikalisch Möglichen ausgedehnt haben, ohne daß bei den für die Meßkunde (der Metrologie) zuständigen Wissenschaftlern Einigkeit darüber besteht, was überhaupt eine physikalische Größe ist. Ja, es gibt Physiker, die glauben, daß Uhren die Zeit messen, so als wäre die Zeit eine Sache und nicht eine wohldefinierte physikalische Größe, die uns hilft, mit den Dinge in uns nützlicher Weise umzugehen. Mit Uhren wird jedoch nicht die Zeit sondern mit Hilfe der Größe Zeit die Dauer von Vorgängen und Zuständen gemessen, als die Differenz zweier (an Uhren ablesbarer) Zeitpunkte, wobei die benutzte Uhr die durch Normengremien definierte Größe „Zeit“ mehr oder weniger genau wiedergibt. Die Zuverlässigkeit des Hilfsmittels „Uhr“ hängt von seiner Konstruktion und den Randbedingungen des Uhrengangs ab, wie von der Temperatur, der Luftfeuchte, dem Luftdruck, der Größe der Schwerkraft, den Fliehkräften, dem magnetischen Feld, der Stetigkeit der antreibenden Energie usw. Doch die Zeit wird durch Abweichungen im Gang einer Uhr in keinster Weise berührt, da sie eine durch Normen festgelegte physikalische Größe ist, genauso wie sie nicht stehen bleibt, wenn eine Uhr abläuft oder kaputtgeht. Eine Uhr, die vom Zeitnormal abweicht, geht einfach schlicht falsch, was die einzige korrekte Feststellung ist! Privat weiß das jeder, aber wissenschaftlich glaubt man, aus einer falsch gehenden Uhr weitreichende Schlüsse ziehen zu können. Zu einer so krassen Verkennung der Funktion einer Uhr kann es nur kommen, wenn man nicht weiß, was ein zutreffendes quantitatives Wissen ermöglicht und was eine physikalische Größe ist, weil man auch hier rein intuitiv vorgeht. Wenn aber schon die Grundlage aller messenden Wissenschaften - die Metrologie - nicht auf Einsicht in die unaufhebbare Erkenntnissituation gegründet wird, welche Kompetenz kann sie dann den messenden Wissenschaften verleihen? Diese werden in der Praxis durch Versuch und Irrtum sicher zu brauchbaren Ergebnissen kommen, doch den Forschern wird es möglicherweise an der nötigen Klarheit, d.h. Unterscheidung fehlen, a) was die physikalische Größe, was das Hilfsmittel und was der Gegenstand ihres messenden Tuns ist, b) was eigentlich beim Messen passiert und c) was das ist, was sie da messen. Entsprechend desolat können die aus den Meßergebnissen gefolgerten Schlüsse ausfallen. Ohne eine erkenntnistheoretisch abgeklärte Metrologie bleibt alles quantitative Wissen vorläufig.

Was aber ist nun beim Messen das Erkenntnismuster, das uns zu einem zuverlässigen quantitativen Wissen verhilft? Ein Grundmuster des Erkennens ist das Vergleichen. Messen ist das Vergleichen von Quantitäten. Beim multiplikativen Vergleich wird die unbekannte Abmessung einer Sache mit dem bekannten, dem gesetzten und definierten Maß - der Maßeinheit - mittels materieller Hilfsmittel (Maßstäbe) verglichen. Dadurch wird das unbekannte Maß als ein Vielfaches bzw. Bruch der bekannten Maßeinheit - in Abhängigkeit von der Genauigkeit der Meßmittel und der Sorgfalt des Messenden - bekannt. Die so ermittelte Abmessung ist die Maßzahl. Zum Begriff des Messens gehören also zwei kognitiv verschiedenwertige Maße - ein bekanntes und ein unbekanntes - und der Akt ihres Vergleichs durch einen Messenden, wodurch eine bis dahin unbekannte Abmessung einer Sache bekannt wird. Das Ergebnis ist dann ein quantitatives Wissen. Diese Art des Vorgehens - auf der Grundlage von selbst definierten Kriterien - hat sich seit Beginn der technischen Zivilisation mit ihr entwickelt. Im Vergleich dazu ist die moderne Naturwissenschaft ein sehr junges Produkt menschlichen Geistes, weshalb sie sich den in Jahrtausenden gewonnenen Grundsätzen der Meßkunde, der Logik und der Urteilsfindung (im positiven Recht) stellen muß, will sie nicht den Boden einer erprobten Vernunft verlassen. Der wichtigste gemeinsame Grundsatz dieser drei sehr alten Wissenschaften ist, daß es abgeklärter Prämissen bedarf, um zu gültigen Urteilen zu kommen. Daß diese Prämissen unstrittig zu sein haben, ist dabei selbstverständlich.

Und was ist eine physikalische Größe? Physikalische Größen haben Aspekte zum Gegenstand, die wir aufgrund unserer Fähigkeiten und Interessen an die Dinge herantragen. Dabei stützen wir uns auf vertraute sinnliche Empfindungen, z. B. von Kraft und Widerstand, Bewegung und Ruhe, warm und kalt, hell und dunkel, laut und leise usw. und machen uns mit diesen Merkmalen (Eigenschaften/Qualitäten) die Welt zu eigen. Vertrautes verschafft Verstehen. So setzt das Merkmal der Temperatur ein Wärmeempfinden voraus, wie das Merkmal der Zeitlichkeit auf der Fähigkeit des Erinnerns beruht. Die Dauer ist dann eine physikalische Größe, die wir bei einer zeitlichen Betrachtung der Dinge erkennen. Kraft, Temperatur, Dauer und alle anderen Größen sind von uns gesehene Aspekte der Welt, unter denen wir mit ihr - sie uns aneignend - umgehen. Aus ihnen kann nicht geschlossen werden, daß sie außerhalb der menschlichen Betrachtung in dieser Form real als Sache existieren, was aber für den Umgang mit ihnen und somit für eine Theorie des Messens unerheblich ist. So sagen wir heute, daß die Temperatur ein Aspekt der Bewegung von Molekülen eines Körpers oder Systems (z. B: eines Gases, einer Strahlung) ist, ohne daß der Begriff der Temperatur, als ein quantitativ erfaßbares Merkmal, dadurch hinfällig wird. Auch die Größe „Masse“ ist keine Sache sondern der Aspekt einer solchen, nämlich das Maß des mechanischen Widerstands eines Körpers bei Wechselwirkungen, Trägheit genannt, also eine dynamische Größe, ohne daß etwas darüber hinaus gehendes gesagt werden kann oder muß. Die kinematische Größe „Geschwindigkeit“ dagegen ist das Bewegungsverhältnis zwischen einer Sache und der vom Beobachter gesetzten Meßstrecke in der Zeiteinheit - man kann auch sagen: ein Maß der Ortsveränderung in einem bestimmten Zeitintervall - und hängt damit in ihrer Menge vom Messenden ab, nämlich von seiner Wahl der Strecke und der Zeiteinheit, die deshalb immer genannt werden müssen, soll die Aussage Sinn machen, d. h. ein geistig nachvollziehbares Wissen vermitteln. Eine Geschwindigkeit ohne Referenzstrecke - einer Reihe von Orten - ist ein sinnleerer Begriff. Größen werden also nicht gemessen sondern vor aller Messung gesetzt. Ihre Setzung ist im wörtlichen Sinne Voraus-Setzung jeglichen Messens! Größen sind daher keine Frage der Wahrheit sondern der Zweckmäßigkeit und der Geltung, weil sie zusätzlich der Vereinbarung bedürfen, soll das durch sie gewonnene quantitative Wissen an anderer Stelle reproduzierbar sein12).

Trotzdem meine ich - in Abweichung von Reichenbach -, daß unsere Erkenntnismethoden für uns nicht „willkürlich“, wenn auch subjektiv sind: sie orientieren sich zwangsläufig an erprobten sinnlichen Empfindungen, an vertrauten Bilder (z.B. in der Religion dem der Familie) und selbstevidenten Annahmen13). Mit diesen subjekteigenen Modellen machen wir - in Ermangelung eines objektiven Wissens - uns die Welt mental und real vertraut und zu eigen, unabhängig davon, was sie für sich selber ist. Indem wir auf diese Weise die Welt uns ähnlich machen, glauben wir danach, sie zu verstehen.

Das ist der Trick des Gehirns, den es zu durchschauen gilt. Insofern sind wir alle geborene Animisten. Der Animismus macht die Welt dem Menschen so ähnlich, daß sie ihm zur Projektion des Menschen mitsamt seinen Abgründen und Sehnsüchten gerät. Und wer als angeblich aufgeklärter Zeitgenosse heute noch hartnäckig darauf besteht, daß nicht nur lebendige sondern auch natürliche physikalische Körper, wie Sonne, Mond und Sterne, real „sich bewegen“ oder „ruhen“, wie er selbst in der Stube oder wie die Kuh auf der Weide, sieht instinktiv wohl in ihnen immer noch belebte und beseelte Wesen, die er mit sich und seinem Verhalten vergleichen kann. Ich denke, die hartnäckige animistische Neigung, auch unbelebte Dinge sich bewegen zu sehen, hat seit der Erfindung der Eisenbahn und des Autos wieder zugenommen, weshalb der Moderne das Verständnis der Newtonschen Axiome abhanden kam, obwohl das Laufen von Motoren vom Willen der Menschen abhängt und sie keinesfalls sich, d.h. aus Eigenmotivation in Gang setzen und bewegen, wie dies das Reflexivpronomen unterstellt. Aber erst die Unterscheidung zwischen sich und den Dingen, zwischen Denken und Sein ist der Beginn jeder wahren Einsicht.

Wenn Newton scheinbar irrational vom absoluten Raum und der absoluten Zeit sprach, so meinte er im Grunde höchst rational, daß nur durch konstante Meßgrößen der Länge und Dauer und konstante Meßstrecken (und eben solche Maßstäbe), eine messende Wissenschaft Sinn macht. Nicht nur die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit bleibt ohne konstante Meßmittel und ebensolche Referenzstrecken unbeweisbar, sondern auch die freie Behauptung einer Relativität der Maßstäbe und Meßstrecken selbst, weil zum Erweis ihrer Richtigkeit die von ihr bestrittene Konstanz der Hilfsmittel Voraus-Setzung wäre14). Im Lichte dieses sich selbst ad absurdum führenden Einsteinschen Postulats können wir jetzt viel besser Newtons Forderung nach von Randbedingungen unabhängigen Maßstäben verstehen. Diese sind nicht nur für die messende Wissenschaft, sondern für die ganze technische Zivilisation der Erdballs unverzichtbar, weshalb es überall das Bestreben der Metrologen ist, Größen so festzulegen, daß sie weltweit reproduziert werden können.


Einsichten statt Postulate

In der Wissenschaft sind prinzipiell unüberprüfbare Aussagen fehl am Platz, was Popper ihr Falsifikationsprinzip nannte, denn gerade um Offenbarungen und sinnleere Annahmen zu erübrigen, war sie einst angetreten. Was wir brauchen ist die Einsicht, unter welchen Bedingungen diskursfähige Urteile möglich sind. Diese Einsicht würde aber auch lehren, daß ein subjektunabhängiges Wissen und eine absolute Wahrheit ein Widerspruch in sich wäre, denn Wissen und Wahrheit besteht immer nur in Bezug auf die Fähigkeiten eines Wissenden15). Aber mit den drei großen R Realitätssinn, Redlichkeit und Ratio ausgestattet ist es möglich, jenes vernünftige Wissen zu erlangen, das einem Vernunftwesen angemessen ist. Wer in der Lage ist, zwischen sich und den Dingen zu unterscheiden und sich bei Urteilen sorgfältigst abgeklärter Prämissen zu bedienen, kann die Subjektivität meistern. Darin erweist sich Vernunft. Ich gehe davon aus, daß vieles vernünftig und richtig ist, was die Wissenschaft bisher herausgefunden hat. Aber man muß auch Kriterien der Vernünftigkeit und Richtigkeit haben, um ihre Aussagen daraufhin prüfen zu können. Da sollten wir keine Kompromisse machen oder dulden und uns nicht mit etwas Geringerem, wie der Schönheit von Theorien oder der Plausibilität von Beweisen begnügen, die oft genug nur unsere Vorlieben schmeicheln, wie wir überhaupt der Verlockung widerstehen sollten, auch in der Wissenschaft den bequemen Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Weder sollten wir nach der schnellen Bestätigung von Vorurteilen gieren, noch sollten wir, durch eigenwillige Fakten(um-)interpretation, uns das notwendige Umdenken zu ersparen versuchen. Eine solche Denkökonomie bringt keine Zinsen, sondern kostet die Wahrheit, die dem Wissenschaftler das höchste Gut sein sollte.

Im strengsten Sinne "wahr" ist eine Aussage dann,
wenn sie uns sagt, welche Eigenschaften eine Sache für sich selber hat
was John Locke ihre "primären Qualitäten" nannte.

Ich denke, ich habe hier anhand von Beispielen Hinweise gegeben, wie eine Objektivierung des Erkennens möglich ist und was ein hinreichend gesichertes, diskursfähiges Wissen ausmacht. Wissen hängt immer von unseren Fähigkeiten ab und es muß das Ziel sein, aus ihnen das Beste zu machen. Ich bin überzeugt: nur eine selbstkritische Besinnung, gestützt auf die Lauterkeit von Argumenten, ist in der Lage, den von Weinberg beklagten Stillstand in der Theorienbildung, einschließlich der von ihr erzeugten „Melancholie des 20. Jahrhunderts“, zu überwinden und den Diskurs wieder ingangzusetzen. Jedoch nicht eine neue, weitere Theorie ist vonnöten, sondern eine so ausreichende Einsicht in unsere Erkenntnissituation, die alles Theoretisieren erübrigt. Letztlich geht es darum, vom handhabbaren Wissen zum angemessenen Verstehen zu kommen.

Der in seiner Rolle erkannte Beobachter ist die ins Bewußtsein gehobene und gemeisterte Subjektivität.


Literatur und Anmerkungen

1)Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, de Gruyter Berlin und Leipzig 1928
2)F. Mühlhölzer in einer „Anmerkung zur ‘Sokal-Affäre’" in „Physikalische Blätter“ - Verbandsorgan der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG), VCH Verlagsges. Weinheim 1997, Nr. 5, S. 440 ff
3)Ernst Pöppel, Anna-Lydia Edingshaus, Geheimnisvoller Kosmos Gehirn, C. Bertelsmann München 1994
4)Steven Weinberg, Der Traum von der Einheit des Universums, Goldmann München 1995
5)G. Frege, Die Grundlagen der Arithmetik, Meiner Hamburg Centenarausgabe 1986, §26. Fundstelle bei Lorenz B. Puntel, bisher unveröffentlicht.
6)E. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, Leipzig 1921, Seite 179
7)In der freundlicherweise überlassenen Übersetzung des MPI für Wissenschaftsgeschichte, Berlin
8)Weinberg in seinem o.g. Buch, S.96, über die Quantenmechanik, deren „geringste Änderung zu logischen Absurditäten führen würde“ und die „nicht bloß als eine Näherung an eine tiefere Wahrheit“ in eine finale Theorie eingehen wird. Ihre tiefere Wahrheit ist die Berücksichtigung unserer Erkenntnissituation.
9)Isaac Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, ausgew., übers., hrg. von Ed Dellian, Felix Meiner Hamburg 1988, S. 38 - Philosophische Bibliothek Band 394
10)Nous (griech.), Geist, Intellekt; bei Platon und Aristoteles „die denkende Seele“
11)Parmenides, Text, Übers., Einfhrg. u. Interpretation von Kurt Riezler, bearb. von Hans-Georg Gadamer, Vittorio Klostermann Frankfurt/M. 1970 - Quellen der Philosophie Band 12, hrg. von Rudolph Berlinger
12)Ganz ähnlich ist die euklidische Geometrie kein durch eine sphärische Geometrie widerlegbarer Tatsachenkanon sondern eine Bereitstellung von Erkenntnismustern, deren Anzahl durch die sphärische Geometrie lediglich erweitert wird. Dabei ist die selbstevidente Definition der Geraden, als der kürzesten Verbindung zweier Punkte, für alle geometrischen Muster unverzichtbar, macht doch z.B. die Rede von einer Krümmung ohne sie gar keinen Sinn.
13)Ich denke, auch die Mathematik beruht auf einer solchen selbstevidenten einfachsten Annahme, nämlich, daß der quantitative Wert einer Größe in allen mathematischen Operationen genau zu erhalten ist, der also durch sie nicht im geringsten kleiner oder größer werden darf. Jede andere Vorgehensweise würde einer Begründung bedürfen, will sie nicht willkürlich sein. Es ist wohl diese konsequente Nichtwillkürlichkeit mit ihrem Erhalt von Größen, welche die Mathematik für die Wissenschaft so brauchbar macht.
14)Einsteins spezielle Relativitätstheorie ist dadurch brauchbar, daß sie die subjektive Größe v durch die sog. "Lorentztransformationen" zum Verschwinden bringt, wie dies schon Newtons Differentialrechnung für v bewirkt. Weil allgemeinen nicht gesehen wird, daß v eine subjektive Größe ist, die nur in Bezug auf eine Meßstrecke existiert, wird weder von Anhängern noch Kritikern durchschaut, was der wahre Kern beider Lehren ist, der sie brauchbar macht. Doch eine rein formale Schlußfolgerung, daß es für objektive Wirkungen auf die "Ruhe" und die "Bewegung" der Erscheinungen nicht ankommt, stimmt eben auch nur insoweit, als es sich um vom Beobachter hergestellte Formalbeziehungen handelt, die für die zu untersuchenden Phänomene keine physikalische Bedeutung haben. Von Relevanz sind jedoch Sachbeziehungen, z.B. in Form der Gravitation zwischen der Sonne und ihren Planeten oder in Form des empfangenen Lichts zwischen einer Lichtquelle und dem Empfänger ihres Lichts. Für irdische Lichtquellen besteht jedoch zwischen der Bewegung der Erde in Bezug auf die Sonne - in Ermangelung eines mit ihr verbundenen Äthers - keine Sachbeziehung. Dies macht den sog. negativen Ausgang des Michelson-Experiments direkt verständlich, der - bei Verzicht auf die Ätherhypothese - keiner weiteren Erklärung bedarf und zugänglich ist. Einsteins Deutung des Ausbleibens von Bewegungsbeweisen beim Michelson-Experiment durch bewegungsabhängige Meßmittel macht nur dann Sinn, wenn sie der Versuch ist, entgegen der Erfahrung die Idee des Lichtäthers oder die Idee der Objektivität der Bewegung zu retten, wofür jedoch kein Anlaß besteht. So gesehen ist sie eine Anti-Erfahrungstheorie, die der Erfahrung durch herbeiphilosophierte Eigenschaften der Natur zu widersprechen versucht. - Die Unterscheidung zwischen subjektiven formalen und objektiven realen Eigenschaften von Sachen ist für die Wissenschaft unverzichtbar, will sie nicht in die Irre gehen. Verallgemeinernde rein formale Betrachtungen können keine Sachaufklärung leisten, geschweige sie ersetzen. Hier bleibt jener Sachverstand unverzichtbar, der die u.a. Frage zu beantworten vermag, ob der Schweif mit dem Hund wedelt oder der Hund mit dem Schweif, was formal ja keinen Unterschied macht, so dass es genügen würde zu sagen: "Es wedelt."
15)sinngemäß wie bei Lorenz B. Puntel über die "absolute Wahrheit" bei H.-J. Niemann, in der Zeitschrift "conceptus" 1998. „Aber wenn die angeblich im Niemannschen Sinne "absolute" Wahrheit in-Relation-steht (bzw. stehen kann) zu diesen Instanzen [der Erkenntnis], so ist sie dadurch in einem grundsätzlichen Sinne relativiert auf diese Instanzen, sie ist davon nicht unabhängig. Diese "Relativität" ist, wenn man sich so ausdrücken will, ein "immanenter Zug" von Wahrheit." (Puntel)

Resümee
Der Anspruch, ein Vernunftwesen zu sein, begründet sich auf den Gebrauch der Vernunft, die eben "nur" vernünftige, auf abgeklärten Prämissen beruhende Urteile zuläßt, von denen sie daher abhängt. Das macht es so wichtig, solche zu erarbeiten bzw. sich an solche zu halten. Wer ein Buch über "Die Strategie der Vernunft" schreibt, wie Hans-Joachim Niemann, sollte auch wissen, daß es "nur" vernünftige, aber eben keine absoluten Wahrheiten gibt, denn sonst brauchte er die Vernunft gar nicht erst zu bemühen. Die Geschichte der Philosophie ist wohl der bisher kaum geglückte Versuch zu erkennen, wie man zu gültigen Urteilen kommt.

Danksagungen
Für Anregungen danke ich den Professoren Dr.Dr.-Ing. Wolfgang Dittrich, Dr.Dr. Lorenz B. Puntel und Dr.Dr. Gerhard Vollmer, der jedoch die Veröffentlichung der Arbeit in der Zeitschrift "Aufklärung und Kritik" verhindert hat, weil er als einer der Mitbegründer der Evolutionären Erkenntnistheorie den naiven Annahmen ihres "hypothetischen Realismus" verpflichtet ist. Insofern keinen Dank.

© HILLE 1998


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