Deduktion aus Erfahrung



Eine Frage der Vernunft

Nach Karl Poppers Evolutionärer Wissenschaftstheorie würde sich der wissenschaftliche Fortschritt nach dem Evolutionsmuster von Versuch und Irrtum vollziehen. Eine solche Auffassung von Wissenschaft kann sich auf jene sicher zahlreichen Fälle der Forschung stützen, bei denen man durch Herumprobieren ein Ergebnis zu erreichen versuchte. Doch Wissenschaft erschöpft sich nicht in solchen Verlegenheitshandlungen. Solange der Forscher nur mit Optionen und Hypothesen auf gut Glück herumhantiert, hat er noch keinen Einstieg zur Problemlösung gefunden. Diesen Zustand als Standard zu behandeln, verkennt sowohl die geistige Potenz des Menschen im allgemeinen, als auch die bedeutender Wissenschaftler im besonderen und gehört zu den Versuchen, die Rolle des Beobachters zu leugnen ("objektive Erkenntnis"). Die großartigen Leistungen dieser Forscher zeigen, daß sie nicht nur über die Methoden von Amöben und Affen verfügten, wie uns Popper weiß machen will. Zur Erklärung des wissenschaftlichen Fortschritts müssen wir auch und vor allem die Intelligenz und Einsichtsfähigkeit der Forscher in Betracht ziehen, weshalb ich hier die Aufmerksamkeit auf eine Methode lenken möchte, die Ed Dellian "Deduktion aus Erfahrung" genannt hatte.

Der Vernunft ist das Besondere der Ausdruck des Allgemeinen unter den Bedingungen der jeweiligen Situation. Daher gilt es von Randbedingungen freie Tatsachen zu postulieren und zu ermitteln, die uns das Wirken allgemeiner Gesetze zeigen. Wenn alle Körper - von der Zufallsbedingung des Luftwiderstands befreit - am gleichen Ort gleich schnell fallen, unabhängig von ihrer Masse und Form, dann zeigt dies, daß es auf die Merkmale des Fallenden nicht ankommt, weshalb auch Antimaterie, Licht und sog. "masselose" Teilchen fallen müssen. Die Lichtablenkung durch die Sonne, von Johann Georg von Soldner 1801 erstmals berechnet, bestätigt da nur Galileis Erfahrung auf der schiefen Ebene. Es gilt also, der Natur vernünftige Fragen zu stellen, damit sie "vernünftig" antworten kann. Aus der so erzielten Antwort ist durch Logik und Mathematik die in ihr enthaltene allgemeinste Inklusion zu finden. Ed Dellian nennt diese Methode "Deduktion aus Erfahrung". Auf ihrem Weg ist es möglich, von sicheren Erfahrungen auf sicherem Weg zu sicheren Aussagen zu kommen. Das Problem dagegen, zu Sachfragen aussagefähige Fakten zu finden und aus ihnen den jeweils allgemeinsten Satz abzuleiten, definiert die Aufgabe des Naturwissenschaftlers, der eben mehr leisten muß, als auf gut Glück durch "Versuch und Irrtum" wie ein dummer Affe etwas herauszufinden. Zu allererst muß er ein Kriterium entwickeln, um Tatsachen beurteilen zu können. Dieses Kriterium aber muß eine Frage der Vernunft sein und nicht instinktiver Prinzipien oder eines modischen Paradigmas. Letztlich wollen Erkenntnisprobleme nicht "gelöst" sondern vermieden werden. Wer Probleme durch Hypothesen "löst" hat das Problem, seine "Lösung" und deren Probleme. Wer Probleme vermeidet, hat nichts von allen drei.


Deduktion aus Erfahrung

Als zuverlässige Erkenntnismittel stehen dem Naturforscher Erfahrung, Logik und Mathematik zur Verfügung, wobei die Mathematik eine Anwendung der Logik auf Quantitäten ist. Der Weg der Logik ist ein deduktiver, weshalb der Forscher aussagefähige Fakten finden muß, aus denen Schlüsse gezogen werden können. Mit Hilfe der Logik und Mathematik sind die in den Fakten enthaltenen Implikationen dann solange zu analysieren, bis der in ihnen enthaltene allgemeinste mathematische Ausdruck und der allgemeinste Satz gefunden ist. Ist der allgemeinste Satz eine All-Aussage, dann handelt es sich bei ihm um einen Grund-Satz. Zum Beispiel haben Galileis Fall- bzw. Rollversuche das aussagefähige Faktum erbracht, daß es keinen Zusammenhang zwischen der Fallbeschleunigung und der Menge der fallenden Masse gibt, weil alles gleich schnell fällt, unabhängig von seiner Masse. Ferner wissen wir, daß es im Vakuum auch nicht auf die Form der fallenden Masse ankommt. Aus den beiden unbestrittenen Fakten ergibt sich der zu verallgemeinernde Satz: "Das Fallen hat nichts mit der fallenden Masse zu tun!" Wenn es aber beim Fallen nicht auf die fallende Masse ankommt, dann sind seine logischen Implikationen, daß es beim Fallen dann erst recht nicht auf die Ladung der fallenden Masse ankommen kann und daß auch sog. masselose Teilchen und Energien fallen müssen. Wenn aber alles fällt, dann heißt dies wiederum: "Gravitation ist universal!" Mit dieser All-Aussage haben wir dann den in den Galileischen Experimenten implizierten allgemeingültigsten Satz oder Grund-Satz gefunden. In Verbindung mit dem Grund-Satz, daß alles Geschehen ein Wechselwirkungsgeschehen ist, ergibt sich die weitere Folgerung, daß sowohl alle bekannten Inhalte des Universums der Gravitation unterliegen als auch zugleich ihre Quelle sind. Der Übersetzer und Herausgeber von Newtons "Principia" (Meiner-Verlag, Philosophische Bibliothek Band 394) schreibt zur Deduktion aus Erfahrung (Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 46, Heft 1, Jan.-März 1992, Seite 97, Frankfurt): "Wie man sieht, dient Newton das Experiment nicht, wie in der heutigen Forschungsmethode, als Prüfstein zur Bestätigung oder Falsifizierung einer "Theorie" (wofür Newton wohl eher den Terminus "Hypothese" setzen würde), sondern als Hilfsmittel beim deduktiven Schritt, der den zu verallgemeinernden Satz erst hervorbringt" (in unserem Beispiel den Satz: "Das Fallen hat nichts mit der fallenden Masse zu tun"), der solange zu verallgemeinern ist, bis die in ihm implizierte allgemeinste Aussage gefunden ist, mit der dann, unter Verwendung anderer allgemeingültiger Prämissen, die allgemeingültigsten Konklusionen einer abgeklärten Erfahrung vorgenommen werden können. Auf diesem Weg ist es möglich, von sicheren Erfahrungen auf sicherem Weg zu sicheren Aussagen zu kommen. Deduktion aus Erfahrung vermeidet die Probleme der Begründung ebenso wie die der Induktion und nutzt den Umstand, daß jedes Besondere Folge allgemeiner, ihm gegenwärtiger Gesetze ist. Das Problem dagegen, zu Sachfragen aussagefähige Fakten und aus ihnen den jeweils verallgemeinerbaren Satz und schließlich den in ihm implizierten allgemeinsten Satz bzw. Grund-Satz zu finden, definiert die Aufgabe des Naturwissenschaftlers.

© HILLE 1996

Anmerkung vom April 2014: Beim Begriff "Masse" bin ich hier einem falschen Sprachgebrauch gefolgt. Statt "Masse" = Maß der Trägheit, wäre es richtig von der Materie bzw. von der Menge der Materie eines Objekts zu sprechen. Zudem unterscheide ich heute zwischen Universum und Kosmos. Das Universum ist das All-Eine, unser Kosmos dagegen eine materielle Ordnung im Universum, die aus einem gemeinsamen Urereignis hervorgegangen ist, dem BigBang.


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