Buchbesprechung

Ernst Pöppel, Anna-Lydia Edingshaus
Geheimnisvoller Kosmos Gehirn

C. Bertelsmann Verlag München 1994, 252 Seiten


veröffentlicht in der philosophischen Zeitschrift "Aufklärung und Kritik" 1/1996
Langtext


Nach einer Aufzählung von Gerhard Vollmer über die möglichen Kränkungen des Menschen (A&K 1/1995) käme im 21. Jahrhundert die neurobiologische Kränkung als 9. dazu. Die mit der Aufklärung der wahren Verhältnisse jeweils verbundene Desillusionierung, die Freud als "Kränkung" der menschlichen Eigenliebe bezeichnete, ist die notwendige Vorbedingung, wenn der Mensch nicht weiterhin der Affe seines tierischen Erbes sein will. Nur wenn er die Bedingungen seiner Existenz geistig durchdringt, kann er jene mentale Souveränität erwerben, die ihm ein seinem Menschsein angemessenen Umgang mit den Problemen erlaubt, soweit sie ihm dann nicht sowieso gegenstandslos sind. Die 9. Kränkung wird in der Einsicht bestehen, daß der gesamte kognitive Apparat eine einzige, an der Plausibilität ausgerichtete Interpretationsmaschine ist, die Energien der Umwelt auf dem Weg des geringsten mentalen Widerstands (Mach nannte dies "Denkökonomie") durch Zuteilung von bewährten Bedeutungen in schlüssig scheinende Informationen verwandelt, die sodann überlebensdienlich bewertet werden. Da dies durchaus menschlicher Alltagserfahrung entspricht, wird der Widerstand gegen diese Einsicht hauptsächlich aus der Wissenschaft selber kommen, also auch aus der Gehirnforschung, soweit die Wissenschaftler die "Objektivität der Erkenntnis" als Schutzschild gegen ihre Kritiker vor sich hertragen, da natürlich im Licht der 9. Kränkung auch wissenschaftliche Theorien nur noch einen Plausibilitätsanspruch einfordern können. Das hier zu besprechende Buch ist ein Beispiel dafür, mit welchen Verteidigungs-, sprich Verschleierungsstrategien wir uns dabei in Zukunft auseinandersetzen müssen und insofern hat die Zukunft schon begonnen. In der richtigen Einsicht, daß das letzte Bollwerk gegen die totale Vereinnahmung des Menschen durch eine materialistisch ausgerichtete Wissenschaft die Philosophie ist, erklären die Autoren sofort die Notwendigkeit, grundlegende Prinzipien der Philosophie hirnwissenschaftlich zu durchleuchten (S.8). Dabei übersehen sie, daß auch die Aussagen des Hirnforschers in die Arbeitsweise des Gehirns eingebunden bleiben und daß er auch nur wieder philosophiert, sobald er über Fakten hinausgeht. Weder hat der Neurobiologe einen privilegierten Zugang zur Realität, noch ist er übervernünftig, denn alles Verstehen läuft nicht auf der Ebene der Fakten sondern auf der semantischen Ebene bewerteter Fakten ab. Es gibt kein Jenseits des Diskurses (Mitterer), so daß die Angemessenheit grundlegender Aussagen nur auf philosophischem Wege geklärt werden kann. Beweise haben ihren Wert nur in einem Kontext, der auf sie hinweist.

Das Grundproblem der Erkenntnistheorie, wie aus der Energie der Umwelt die Information für die Innenwelt wird, glauben die Autoren dadurch elegant aussparen zu können, indem sie diese Energie gleich in den Rang einer frei umherschweifenden Information erheben, die von den Rezeptoren nur noch aufgenommen zu werden braucht. Auf S. 65/66 werden sogar "aus der Umwelt aufgenommene Reize" bemüht, die die "Informationen in sich tragen", als sei auch der Reiz etwas, was immer schon und unabhängig vom reizfähigen Organismus existiert. Es wird auch offen gelassen, wo die Reize ihre Bedeutung hernehmen, so als könnte auch die Bedeutung einer Sache eine objektive Eigenschaft sein. Spätestens hier muß sich der kritischen Leser die Frage stellen, wozu Lebewesen dann überhaupt noch ein Gehirn brauchen, wenn dessen mögliche Produkte schon außerhalb von ihm existieren, und was der Gehirnforschung, außer Adaptern für die Effektoren, als Gegenstand bleibt. Für den dogmatischen Objektivisten hat die demonstrierte Betrachtungsweise durchaus Sinn, entspricht sie doch seinem Ideal von der objektiven Erkenntnis ohne die verfälschenden Interpretationen eines erkennenden Subjekts. Es finden sich im Buch zwar auch kurze Hinweise auf den richtigen Sachverhalt, so am Ende der Bildunterschrift von Bild 15: "Der größere Umfang des menschlichen Gehirns (gegenüber einem tierischen) legt auch nahe, daß unsere Welt reicher an Bedeutung ist." Oder es taucht die lapidare Andeutung "einer weiteren Diskursebene" auf, die sich mit der Frage beschäftigen müsse, "wie Bedeutung des Gelesenen generiert wird" (S.26). Aber genau diese, nicht weiter untersuchte Frage hat mit der riesigen Terra incognita der Hirnforschung zu tun, die von keinem Seziermesser und von keinem Positronen-Emissions-Tomographen entschlüsselt werden kann. Gerade sie betrifft die eigentliche Leistung des Gehirns, um deren Verständnis und nicht um deren Leugnung es gehen müßte. Mit der Leugnung versucht das Gehirn nur, sich vor einer Störung seiner Arbeitsweise zu schützen. Wie ein solches Verständnis aussehen könnte, habe ich in meinen Aufsatz "Was uns veranlaßt, eine Aussage für 'wahr' zu enthalten" (A&K 1/1995, S.109 = Datei II/4) demonstriert, der nahelegt, daß und in welcher Weise unser Für-wahr-Halten von einer Konvergenz der beiden Hirnhälften abhängt. Bei dieser Deutung werden zwar gesicherte Ergebnisse der Hirnforschung berücksichtigt, doch bleibt sie erkennbar der semantischen Ebene zugehörig.

Je mehr ich die impliziten Annahmen des Buches erkannte, umso besser meinte ich, die Einlassungen der Autoren im Vorwort zu verstehen. Zuerst liest man dort, als Fingerzeig auf Verfremdung: "Bei dem langen Gang hin zu einem endgültigen Buchmanuskript haben uns viele geholfen" (S.8). Welcher Art diese wohl oft aufgedrängte Hilfe war wird eine Seite später deutlich als es heißt: (Die Ideengeber zu Fernsehserie und Buch) "Johanna Koch und Horst Günter Koch drängten immer wieder dazu, komplizierte Sachverhalte der Hirnforschung in einfache Worte zu fassen, so daß der Wissenschaftler schließlich aufstöhnte: Ein bißchen richtig muß es aber auch sein." Nur ein bißchen richtig und vielleicht nichteinmal das? Ich bin überzeugt, daß der im Buch als Zielgruppe genannte "aufgeschlossene Laie", der fast 40 Mark und seine Zeit opfert, um das Buch zu lesen, und der Steuerzahler, der zig Millionen für die Forschung locker macht, dies in der Hoffnung tun, für ihr Geld rückhaltlos unterrichtet zu werden und daß sie keinen Vormund wünschen, der die Wahrheit mit Rücksicht auf herrschende Paradigmen selektiert. Oder allen Autoren, Rat- und Herausgebern ist das Gehirn wirklich ein so geheimnisvoller Kosmos, wie der Titel behauptet, was ich bei Pöppel aber nicht glauben kann. Zum Ende zu finden wir ihn nämlich wieder in gewohnter Form, wenn er über die Mechanismen unseres Zeiterlebens, über neue Erkenntnisse zur "Künstlichen Intelligenz" und in einzigartiger Weise über "Die Künste und das Gehirn" schreibt. Was die Fakten betrifft handelt es sich nämlich um ein lesenswertes Buch, das uns viele aufschlußreiche Einblicke in die Arbeitsweise eines Organs vermittelt, das in der Evolution gelernt hat, mit seinem Nichtwissen auf überlebensdienliche Weise umzugehen. Das macht das Gehirn so perfekt, daß es die Illusion erzeugt, ein objektives Wissen zu besitzen. Aber erst wenn wir seine Als-ob-Strategie durchschauen, fangen wir an, wirklich zu verstehen. Solange wir seine Hypothesen und Erfindungen, wie z. B. die der Zeit, für bare Münze nehmen, sind wir nur die Marionetten des Herrschaftsorgans, die seinen Vorgaben hinterherlaufen. Sokrates jedoch war ein Weiser: Er hatte alle Wissensillusionen solange hinterfragt, bis er wußte, daß wir (objektiv) nichts wissen. Das gab ihm jene mentale Souveränität, die ich uns allen wünsche.

© HILLE 1996

In der vorausgegangenen Vorschau dieser Seite lege ich aus dem erarbeiteten Material - exemplarisch für das Buch - in der Veröffentlichung in A&K ("Aufklärung und Kritik") nicht enthaltene kritische Anmerkungen zu drei Textstellen vor. In allen drei Stellen geht es um die Grundfrage der Philosophie, der Subjektivität der Erfahrung, die im zitierten Text der dritten Anmerkung auch ausdrücklich genannt wird.



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