Buchbesprechung

Ernst Pöppel, Anna-Lydia Edingshaus
Geheimnisvoller Kosmos Gehirn

C. Bertelsmann Verlag München 1994, 252 Seiten


Langtext veröffentlicht in der philosophischen Zeitschrift "Aufklärung und Kritik" 1/1996
Vorschau


Statt einer Kurzfassung
lege ich - exemplarisch für das Buch - hier aus dem erarbeiteten Material kritische Anmerkungen zu drei einzelnen Textstellen vor. In allen drei Stellen geht es um die Grundfrage der Philosophie, der Subjektivität der Erfahrung, die im zitierten Text der dritten Anmerkung auch ausdrücklich genannt wird.


Auf S. 127 wird von einer Patientin berichtet, die "aufgrund einer örtlichen Schädigung ihres Gehirns nicht mehr fähig war, Bewegungen von Gegenständen im Raum wahrzunehmen. Für sie befand sich etwas Gesehenes zu einem bestimmten Zeitpunkt an einer Stelle im Raum und zu einem anderen Zeitpunkt an einer anderen Stelle, ohne daß für sie zwischen diesen Positionen eine Verbindung bestand. ... Die Identität des wahrgenommenen Objekts geht verloren, weil Bewegungswahrnehmung als elementare Voraussetzung nicht gegeben ist." Die Störung wird also als eine der Wahrnehmung beschrieben. Gestört war jedoch der Eindruck von Bewegung, der durch die Überlagerung oder den Vergleich wechselnder Positionen im Gehirn entsteht, eine nützliche Illusion, die uns die Identität von Objekten sehen läßt. (Magier nutzen diese Sehweise, in dem sie scheinbar am Ort des Objekts plötzlich ein anderes Objekt auftauchen lassen - z.B. statt des Tigers eine schöne Frau - was dem Publikum wegen der identitätsstiftenden Sichtweise dann als Zauberei erscheint, weil Tiger und Frau ihm als ein und dasselbe Objekt erscheinen.) Kann man sich einem Arzt anvertrauen, der eine Störung des Wahrnehmungsapparates diagnostiziert, obwohl eine solche des Interpretationsapparates vorliegt? Ja, der - wie vermutet werden kann - vielleicht nichteinmal weiß, daß das Gehirn über interpretierende Fähigkeiten verfügt, ja überhaupt ein interpretierendes Organ ist?

In Kapitel 9 über die Organisation des Erlebens nach dem Muster der Zeit wird auf der ersten Seite des Kapitels (S.160) gefragt, "wie Zeit in unser Bewußtsein, in unser Gehirn hineinkommt." Dann wird sehr sorgfältig die Entstehung der "fünf elementaren (Zeit-)Phänomene" beschrieben (Gleichzeitigkeit, Ungleichzeitigkeit, Aufeinanderfolge, Gegenwart und Dauer) und ganz am Ende des Kapitels folgt die richtige Einsicht: "Das Gedächtnis erlaubt uns somit Vergleiche, und nur über das Gedächtnis wird uns das Bewußtsein des Wechsels in der Zeit und damit letzten Endes auch der Begriff von Zeit ermöglicht." Der Begriff von Zeit entsteht also durch das vergleichende Erinnern von Lebewesen und kommt nicht von außen in sie hinein und ist somit nicht ein konstitutiver Teil der Welt, wie heute in der Physik getan wird. Während also die klinische Forschung die objektivistische Sicht von Zeit notwendig widerlegt und nur den Schluß zuläßt, daß sich der Mensch nicht in der Zeit sondern mit ihr in der Welt orientiert, wird sie doch zuerst aufgegriffen und als Forschungsprogramm hingestellt. Nur der aufmerksame und kritische Leser erkennt dann am Ende, daß mit einem falschen Ansatz begonnen wurde und fragt sich, warum an ihm festgehalten wird, bzw. er sieht, wie auch dieser Forscher sich dem objektivistischen Paradigma wider besseren Wissens verpflichtet fühlt. Ein dem Stand der Forschung unangepaßtes Denken und damit Sprechen sorgt für die Negierung der Forschungsergebnisse schon im Moment ihrer Darstellung durch den Forscher selbst. Anläßlich eines Empfangs zur Eröffnung des Humanwissenschaftlichen Zentrums (HWZ) der Ludwig-Maximilians-Universität München hat Pöppel (der 1. Vorsitzender der neuen Einrichtung ist) dem Rezensenten in einem persönlichen Gespräch im Senatssaal bestätigt, daß er von der Objektivität der Zeit überzeugt ist, so daß es sich hier nicht um ein Mißverständnis oder gar um eine Unterstellung handelt.

Auf S.204 des Buches "Geheimnisvoller Kosmos Gehirn" heißt es: "Eine Grundfrage der Philosophie lautet, wie man eigentlich wissen könne, ob ein anderer Mensch beseelt sei. Aufgrund der Subjektivität der Erfahrung sei man gleichsam in sich eingeschlossen und könne deshalb nur vermuten, nicht aber wissen, ob ein anderer über dieselben oder ähnliche Erlebnisse verfüge wie man selbst. Der von uns angesprochene Attributationsmechanismus der Vermenschlichung führt automatisch dazu, anderen Menschen Leben und Erleben zuzuerkennen." Diese richtige Einsicht in die Isoliertheit und Subjektivität aller Erfahrung, verbunden mit der Vermenschlichung der Mitwelt, die jedoch Menschen gegenüber sich überwiegend bewährt, glaubten die Autoren oder die Bedenkenträger dem Publikum nicht zumuten zu können, obwohl sie als Realismusfrage tatsächlich die Grundfrage allen kritischen Philosophierens ist. "Für den Normalsterblichen ist die Frage nach der möglichen Existenz einer Seele bei anderen deshalb auch schwer zu verstehen." Die Sorge um das Verständnis des "Normalsterblichen" war m. E. jedoch noch nie eine Hemmschuh der Wissenschaft, außer vielleicht in der Psychologie, soweit ihre Schulen nicht ihrerseits bemüht sind, ein Paradigma/Dogma zu untermauern. Daher wird die Einsicht in die Subjektivität aller Erfahrung anschließend wie folgt wieder gestrichen: "Erst durch die Abtrennung der Rationalität von anderen mentalen Prozessen, insbesondere von der emotionalen Bewertung des Erlebens, kann es zu solchen Irrläufern der Analyse menschlichen Verhaltens kommen." Die erst richtig herausgestellte "Grundfrage der Philosophie" nach der Objektivität des Erlebens und seine Projektion auf die Mitwelt, wird im Nachhinein kurzerhand zum "Irrläufer der Analyse" erklärt, weil sie nicht in des objektivistische Paradigma paßt. Natürlich ist es richtig, daß es zu Falschbewertungen kommen kann, wenn man menschliches Verhalten rein rational zu deuten versucht. Doch durch diesen für sich richtigen Satz ist aber keinesfalls bewiesen, daß bei der ursprünglichen Feststellung (fett gedruckt) eine Falschbewertung vorliegt. Man glaubt zu verstehen, wieso zwei Autoren gebraucht wurden und wie auf Druck der Bedenkenträger/ Herausgeber die Arbeitsteilung zwischen ihnen gewesen sein könnte.

© HILLE 1996


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