2 Buchbesprechungen

Anmerkungen zur Soziobiologie


veröffentlicht in der philosophischen Zeitschrift "Aufklärung und Kritik" 2/1995

Edgar Dahl: Die Gene der Liebe. Vom ewigen Kampf der Geschlechter, Carlsen Verlag GmbH Hamburg 1994

Wie der Untertitel andeutet, sieht sich der junge Edgar Dahl diesmal als Kriegsberichterstatter auf dem Schlachtfeld der Liebe in vorderster Spermienfront unterwegs, durch die er streckenweise förmlich watet. So vergnüglich und kurzweilig wie die Sache selbst sein kann, liest sich auch Dahls Buch, wenn, ja wenn es nicht auch mörderische Konsequenzen der "Liebe" gäbe, von denen der meist unter einer Dunstglocke aus Moral gehaltene Mensch kaum etwas ahnt. Dieser ist daher ziemlich sicher, daß es sich bei einer bösen Mutter um eine Stiefmutter handeln muß, obgleich Flachslanden mitten im anheimelnden Franken liegt. Dahls Buch "will nicht nur beschreiben, mit welchen 'Waffen' Männer und Frauen kämpfen, sondern auch erklären, wie es zu der Feindschaft zwischen den Geschlechtern kam." Dazu bedient er sich der Soziobiologie "einer recht jungen Wissenschaft, die die biologischen Grundlagen des sozialen Verhaltens untersucht." Die Soziobiologie räumt dankenswerterweise zuerst einmal mit der Verwechslung auf, daß die Erhaltung ihrer Art das Ziel und nicht das Ergebnis des Verhaltens von Lebewesen wäre, wie das Konrad Lorenz noch für ganz selbstverständlich hielt. Aber wenn es nicht um die je neue Kombination von Chromosomensätzen ginge, mit dem Ergebnis adaptiverer Phänotypen, wäre die Erfindung der Sexualität, der wir die Vielfalt der mehrzelligen Arten verdanken, völlig vergebens gewesen.

Im Mittelpunkt der nicht unumstrittenen jungen Wissenschaft stehen daher mit Recht Untersuchungen über die Strategien, die den "Fortpflanzungserfolg der Lebewesen erhöhen". Wie Dahls Buch demonstriert, stoßen ihre geradlinigen Erklärungsversuche komplexer Zusammenhänge dabei immer wieder an Grenzen, indem sich entweder zeigt, daß gegenteilige Strategien ebenfalls erfolgreich sind, oder daß für viele Fälle auch ganz andere Erklärungen zu passen scheinen. Der immer schneller werdende Zuwachs ethnologischer Ergebnisse und die mit ihm wachsende Zahl von Theorien macht dabei grundsätzlich deutlich, daß Erklärungen immer nur für überschaubare Zusammenhänge und für eine ebensolche Dauer möglich sind, daß aber das Lebendige in der Wahl seiner Reproduktionsstrategien selbst nie endgültig festgelegt ist. Dies darf aber gerade einen Soziobiologen nicht überraschen, denn eben die Überwindung der genetischen Gefangenschaft ist das Faktum der Sozität begründenden Sexualität, bei der die genetische Information nicht mehr in einem nur sich selbst reproduzierenden Lebewesen niedergelegt sondern über den ganzen Pool einer Population verteilt ist, der eine ständige Neukombination der Gene ermöglicht. (Im übrigen aber pflanzt sich selbst der Mensch zwischendurch immer wieder mal auch durch Zellteilung fort. Das Ergebnis sind dann eineiige Mehrlinge.)

In seiner Danksagung schreibt Dahl, daß er immer noch "ein hoffnungsloser Freudianer" wäre, hätte man ihn "nicht mit der faszinierenden Gedankenwelt von Verhaltensforschern wie Konrad Lorenz und Niko Tinbergen vertraut gemacht". So ist seine längere Aufarbeitung des Ödipuskomplexes wohl zwangsläufig. Dabei widerspricht der Ödipuskomplex dem biologischen Sinn von Sexualität, da sie den Genaustausch mit einem Genpool sucht, der nicht zur eigenen Sippe gehört, weshalb das Inzesttabu genau in ihrem Sinne ist. Dies macht es von vornherein höchst unwahrscheinlich, daß es zu seiner Installation erst der Kultur bedurfte. Richtig aber ist, daß es für menschliches Verhalten eben nicht nur biologische Motive gibt. Ich sehe in der Soziobiologie, wenn ich Dahls Buch als für sie repräsentativ ansehen darf, mit ihrer Tendenz, alles Verhalten möglichst reproduktionsbiologisch erklären zu wollen, auch da es wo es sich beim Menschen schlicht um Aberglauben aus Unkenntnis, um Traditionen oder rein ökonomische Gründe bzw. Moden handelt, die Gefahr, einen rein auf den Zeugungszweck abgestellten biologischen Fundamentalismus in die Hände zu arbeiten, wie er uns z. B. in der Lustfeindlichkeit dogmatischer Puristen zum Überdruß bekannt ist. Und wie kann es biologisch sinnvoll sein, die Zahl der Mädchen durch Mord oder Vernachlässigung zu reduzieren, wenn das weibliche Ei die den Geschlechterkampf begründende Mangelware ist? Oder was soll es an Fortpflanzungserfolg bringen, Frauen erst zu vergewaltigen und sie dann oder dabei zu töten? Dazu bleibt uns Dahl die Antworten schuldig. Und das ist das beste an solchen Beispielen, denn wissenschaftlich klingende Begründungen von Verbrechen könnte von interessierter Seite als willkommene Entschuldigung benutzt werden.

Oder nehmen wir das zeugungsbiologisch nicht aufarbeitbare Faktum der Homosexuellen - eine "Art", die das Kunststück fertigbringt, auch ohne Fortpflanzung zu überleben: Für alle biologischen Fundis ist der Homosexuelle ein biologischer Nichtsnutz, bestenfalls ein Kranker (auch Dahl behandelt ihn in Zusammenhang mit einer Krankheit), der als solcher keine Überlebensberechtigung besitzt, weshalb er von religiösen und völkischen Kreisen gleichermaßen verfolgt wird. Dabei sind zur Ehelosigkeit verpflichtete Priester, Beamte und Angehörige geistlicher und weltlicher Orden Beispiele dafür, daß es in der menschlichen Gesellschaft soziale und kulturelle Bedürfnisse gibt, die am besten von jenen erfüllt werden, die von der Sorge um die Aufzucht eigener Kinder freigestellt sind. Und so ist es sicher kein Zufall, wenn Homosexuelle in den kulturellen und künstlerischen Bereichen, in denen sich der Mensch als Kulturwesen verwirklicht, überproportional und führend vertreten sind. Das Leben läßt sich eben nicht in allen Teilen durch die Kosten-Nutzen-Analyse der biologischen Reproduktion erfassen. Ein auf Nützlichkeit reduziertes Leben, ohne Barmherzigkeit und Kultur, wäre kein menschliches Leben und keiner möchte es führen. Und selbst Paradiesvögel und Korallenfische wären in ihrer Pracht nicht zu verstehen, wenn sie nicht so etwas wie einen Schönheitssinn hätten. Primär ist das Leben das zweckfreie Wahrnehmen der durch Gendrift selbst herausgefundenen Fülle von Daseinsmöglichkeiten. Die mögliche Fülle wird einerseits durch die Selektion der überlebensfähigen Phänotypen in Grenzen gehalten, andererseits geben diese der Drift durch ihre Einschätzungen und Vorlieben sich verstärkende Entwicklungstendenzen.

Dahls "Gene der Liebe" ist für den an der Geschichte des sozialen Lebens Interessierten ein lesenswertes und anregendes Buch, spritzig geschrieben, das mit seiner Informationsfülle nicht erdrückt. Und man merkt, daß Dahl, wie er selbst schreibt, von Gerhard Vollmer gelernt hat, "schwierige Sachverhalte einfach und verständlich darzustellen". Elegant die Kapitelüberschriften und die dazu ausgewählten Zitate, wenn auch sachliche Titel den Überblick über den umfangreichen Stoff erleichtern würden. Wenn man im Hinterkopf behält, daß nicht alles im menschlichen Leben sexuelle Gründe hat und nicht jedes sexuelle Verhalten biologische bedingt sein muß, umgeht man die Fallstricke der soziobiologischen Betrachtungsweise. Sexualität, einmal in die Welt gesetzt, ist jedenfalls nicht nur Zweck sondern für intelligente Arten auch Mittel, das mit seiner Lust, neben kommerziellen Aspekten, auch freundlich- und friedlichmachenden Zwecken dienen kann und wohl überwiegend auch dient, wie Dahl von den Bonobos berichtet. Und neben der unbeantwortbaren Frage, warum es überhaupt Seiendes gibt, bleibt die Existenz des Lebens und der Liebe ein mit ihr verbundenes Mysterium.


Adrian Forsyth: Die Sexualität in der Natur. Vom Egoismus der Gene und ihren unfeinen Strategien, Kindler-Verlag München und DTV Sachbuch 1991, 239 S.

Gleich am Anfang des Buches gibt der von der "Canadian National Magazine Awards Foundation" schon zum dritten Mal als bester Wissenschaftsjournalist ausgezeichnete kanadische Autor dem Ausdruck, daß die Wissenschaftsgeschichte die Geschichte ihrer Fragen ist. Als erstes Zitat führt er an: "Ohne Spekulation gibt es keine Beobachtung." (Charles Darwin in einem Brief an Alfred Russel Wallace). Entsprechend ist die Vielgestalt der gestellten Fragen und ihrer Antworten, die so ausgewählt oder vom Autor, der an der Harvard University in Biologie promoviert hat, selber entwickelt sind, daß keine Einseitigkeit aufkommt. Insbesondere geht er auch auf den Trend in der Verhaltensbiologie ein, "Individualverhalten und Individualerfolg quantitativ zu erfassen", weil gerade "sie die Basis für die natürliche Selektion und die Evolution bilden", wogegen "Ethnologen in der Vergangenheit versuchten, die artspezifischen Verhaltensmuster herauszuarbeiten". So ist man durch ausgedehnte Beobachtungen und/oder durch Blut- bzw. Genanalysen dahinter kommen, daß bei vielen Arten auch nichtdominante Männchen zur Paarung kommen. Die Haremsbildung ist eine Strategie, List oder Flinkheit eine andere, um zu einem Fortpflanzungserfolg zu kommen.

Der Autor wartet mit einer Fülle detaillierter Untersuchungen und Überlegungen auf, die wahrscheinlich nicht nur dem Nichtbiologen ungewohnte Einblicke in die Vielgestalt der Fortpflanzungswege und der angewandten Strategien von Pflanzen, Tieren und Menschen gibt. Trotzdem vermisse ich auch bei Forsyth Hinweise auf das alle Fortpflanzungsvarianten im Wechsel nutzende Überlebenskonzept der Quallen. Dafür gibt er Hinweise auf die Reifungsteilung (Meiose), bei der die elterlichen Gene eines Individuums im Vorfeld der Befruchtung nach dem Zufallsprinzip gemischt werden, weshalb Geschwister genetisch unterschiedlich ausgestattet sind. "Gott" würfelt eben doch. In Forsyths Buch geht es nicht ganz so mörderisch zu wie in Edgar Dahls "Die Gene der Liebe", wenn auch er ihnen, aber feministisch angehaucht, "unfeine Strategien" attestiert. Trotz vieler einleuchtender Erklärungsansätze bleibt jedoch dunkel, was uns an der eigenen Art interessiert: Warum Frauen ihre fruchtbaren Tage (den Östrus) nicht erkennen lassen, obwohl das gerade auch bei den Primaten der Fall ist, oder was für eine Bedeutung der weibliche Orgasmus hat und worin er besteht. Es ist wohl die aus der Kultur kommende Überlagerung, die eine vergleichende Verhaltensforschung hier so wenig ergiebig macht, abgesehen davon, daß beim weiblichen Orgasmus dieser im Tierreich noch schwerer mit Sicherheit auszumachen ist. Aber vielleicht haben die forschenden Männer auch nur einen zu männerspezifischen Orgasmusbegriff und die forschenden Frauen halten sich bedeckt - ein Verdacht, der mich nicht ganz losläßt.

Forsyths Buch "Die Sexualität in der Natur" ist allgemeinverständlich geschrieben und flüssig zu lesen. Auch finden wir grundsätzliche Überlegungen über Sinn und Grenzen der Sexualität, so wenn plausibel gemacht wird, daß es für optimal angepaßte Schmarotzer auf langlebigen Wirten vorteilhafter sein kann, sich ungeschlechtlich zu vermehren (Jungfernzeugung). Doch menschliche Phantasie reicht nicht aus, sich alle tatsächlich vorkommende Wege und Strategien der Sexualität auszudenken, weshalb wir auch in Zukunft mit überraschenden Entdeckungen rechnen können. "Sexualität verändert nicht nur alles, was mit ihr in Berührung kommt", wie Forsyth zum Schluß schreibt, sondern ist selbst ein Chamäleon. Das Buch ist gründlich recherchiert, auch wenn fast ausnahmslos nur englischsprachige Quellen herangezogen wurden, wie das bei nordamerikanischen Wissenschaftspublikationen leider üblich ist. Bei der Internet-Datenautobahn scheint es sich um eine Einbahnstraße zu handeln. Der Zoologe Dr. Gerhard Pretzmann vom Naturhistorischen Museum Wien, der eben dies auch beklagt, attestiert dem "Büchlein" von Forsyth in seiner Besprechung (in Agemus Nachrichten Wien Nr.33b), daß es, neben den "nicht nur für den Biologen und Soziologen interessanten Fakten", "auch wertvolles Material für ethische und naturrechtliche Überlegungen" enthält, worauf ich daran Interessierte hier noch hinweisen möchte.

© HILLE 1996


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