Das Realprinzip als Erkenntnisstrategie


Vortrag auf der DPG-Frühjahrstagung März 1995 in Duisburg FV DD, Tagungsband S.176-181
Langtext
mein erster Vortrag vor der DPG und noch immer einer der wichtigsten
(Vortragstexte, eingereichte Kurztexte und Veröffentlichungen werden als Dokumente stets unverändert wiedergegeben)

Inhalt:
1. Der Faktor "Beziehung"
2. Wie objektiv ist Bewegung?
3. Realprinzip und Relativitätsprinzip
4. Das Realprinzip und die Grundgesetze der Physik
5. Realsysteme, Realerklärung und Realaussage
6. Eine Frage der Vernunft
Literatur und Anmerkung
Statement
Gedicht ANANKE

"Denn nicht ohne das Sein ... wirst Du das Erkennen finden."
Parmenides, Frag.8, Z.35 u. 36 (s. auch II/5 u. 5b)

1. Der Faktor "Beziehung"

Anläßlich zweier Vorträge über die Relativität von Wirklichkeit im Rahmen der "Wiener Vorlesungen" im Rathaus von Wien, "einem internationalem Forum für bedeutende Persönlichkeiten", hat der bekannte Philosoph und Psychologe Paul Watzlawick "zur Erweiterung unserer Sichtweise durch den Faktor 'Beziehung'" auf folgendes hingewiesen.

"Wir müssen umdenken lernen. Wie das aussehen kann, dafür bietet uns Bertrand Russell einen sehr wichtigen und brauchbaren Hinweis. Er verweist darauf, daß ein häufiger Fehler in der Wissenschaft darin liege, zwei Sprachen zu vermengen, die streng voneinander getrennt sein müßten. Nämlich die Sprache, die sich auf die Objekte bezieht, und die, die sich auf Beziehungen bezieht. Ein Beispiel: wenn ich sage, dieser Apfel ist rot, dann habe ich in der Objektsprache eine Eigenschaft dieses Objektes Apfel bezeichnet. Sage ich dagegen, dieser Apfel ist größer als jener, dann habe ich eine Aussage über die Beziehung gemacht, die sich nicht mehr auf den einen oder den anderen Apfel zurückführen läßt. Die Eigenschaft des Größerseins kann nur in Bezug auf die Beziehung verstanden werden. Das ist so schwer zu begreifen. Unser beginnendes Verständnis der Eigenschaften von Beziehungen ist noch ein sehr rudimentäres und gibt uns bisher eigentlich mehr Rätsel auf als Erklärungen."1)

Beziehungen oder lat. Relationen existieren rein mental im Anschauungsraum des Beobachters und entstehen durch geistige Verknüpfungen, z. B. von Objekten. Durch Verknüpfung ordnen wir Objekten uns Verständnis gebende Eigenschaften zu, die sie nicht für sich selber haben, z. B. die des Größerseins. Wollen wir der Klarheit und Wahrheit wegen die verfälschende Vermischung von Ebenen vermeiden, dann müssen wir als erstes aufhören, Aussagen zu Relationen mit dem Prädikat "objektiv" zu belegen.

Objektiv kann immer nur etwas sein, was einem Objekt und ihm allein zugehört.

Dagegen gehören alle nichtkausalen Beziehungen in die Sphäre des Subjekts und haben ihre Wahrheit einzig durch sein Verständnis von Objekten. Erst wenn wir aufhören, uns darüber Illusionen zu machen und wenn wir Relationen als Relationen erkennen, lernen wir, zwischen Objekt- und Subjektebene und letztlich auch zwischen Denken und Sein zu unterscheiden und die verfälschende Vermengung der Ebenen zu vermeiden. Je klarer jemand durch die Erweiterung seiner Sichtweise erkennt, zu welcher Ebene seine jeweilige Aussage gehört, ein umso besseres Objektverständnis kann er gewinnen. Oder wie Parmenides sagte: "Denn nicht ohne das Sein ... wirst Du das Erkennen finden." Meiner Überzeugung nach muß es das Ziel in den Naturwissenschaften sein, gedanklich so weit wie möglich aus der Ebene der Relationen in die Objektebene vorzustoßen und von ihr aus zu argumentieren. Diesen anzustrebenden Argumentationsgrundsatz nenne ich das "Realprinzip". Ich verstehe ihn als einen Grundsatz, den die Vernunft mir nahelegt, wenn ich erkenne, daß ich zwischen Relationen und Realitäten unterscheiden muß und zu bedenken habe, daß nur vom Realen und nicht von Relationen kausale Wirkungen ausgehen können: Nur Sachen können Ursache sein! Gingen von Relationen, die nur mental existieren, also vom Gedachten, Wirkungen aus, dann fielen diese nicht mehr in den Bereich der Wissenschaft, als der Kunde vom Seienden, sondern in den der Magie.

So verkörpert das Realprinzip als Denkprinzip den Geist der Wissenschaftlichkeit.

In seinem Sinne werden von mir im folgenden Text die Eigenschaften "objektiv" und "subjektiv", rein sachlich, auf die ontisch unterschiedlichen Ebenen verweisend, ohne jede qualifizierende oder emotionale Wertung gebraucht.

2. Wie objektiv ist Bewegung?

Wenn wir zur Wahrung des Realprinzips immer nur "objektiv" nennen wollen, was einem Objekt von sich aus zugehört und keine Zugabe des Beobachters ist, so ist die Selbstbewegung eines Lebewesens mittels seiner Muskeln etwas Objektives, weil es sein eigener und aktiver Zustand ist. Wenn jedoch ein Objekt, das zu verschiedenen Zeitpunkten in unterschiedlichen Relationen gesehen wird, z. B. ein fliegender Pfeil, nur durch die Verknüpfung abfolgender Beobachtungen und deren Vergleich als "bewegt" erscheint, während dieser Zeit selbst aber im immer gleichen Zustand ist, dann ist "Bewegung" kein objektiver Zustand des "Bewegten". Wirkungen können daher von ihm erst dann ausgehen, wenn aus der sog. "Bewegung" eine reale Begegnung wird, z. B. mit einem Vogel, der dann getroffen vom Himmel fällt. Ein natürlicher physikalischer Gegenstand mag uns daher im Relationenvergleich ruhend oder bewegt erscheinen, doch für sich verharrt er lediglich in seinem Zustand, "sofern er nicht durch eingedrückte Kräfte zur Änderung seines Zustands gezwungen wird." (Newton, 1. Axiom2)) Indem der Realist Newton den objektiven Realzustand kraftfreier Körper erkannte, konnte er die Dynamik begründen. Die klassische Dynamik ist zugleich die klassische Anwendung des Realprinzips. Wenn ihre Axiome heute so wenig Verständnis finden, dann liegt dies auch an der Vermischung der Ebenen durch Newton, der trotz der Erkenntnis, daß ein kraftfreier Körper lediglich in seinem Zustand verharrt, im gleichen Atemzug von "seinem Zustand der Ruhe oder der ... Bewegung" sprach (der Fehler kann kann jedoch bei den div. Übersetzern liegen), der aber nur eine Wertung des vergleichenden Denkens ist. Unterscheidet man am Körper jedoch Sein und Schein, dann gibt es kein Problem: Für sich verharrt er, für uns ist er im Zustand der Ruhe oder der Bewegung!

Da die Evolution nur durch Versuch und Irrtum am Erfolg ausgerichtete Erkenntnismechanismen entwickeln kann, gehört zu allen Aussagen, die nicht rein logisch sind, ein meist nicht bewußtes, am Erfolg ausgerichtetes Hintergrunddenken, mit dessen Hilfe wir unsere Urteile bilden. Wenn wir, aller Logik und Erfahrung trotzend, hartnäckig darauf bestehen, daß auch tote Dinge objektiv bewegt sind, wenn wir sie bewegt sehen, obgleich sie nichteinmal Bewegungsorgane haben, um einer solchen Rede auch nur den Anschein von Objektivität geben zu können, so verdanken wir dies einem nicht bewußt gemachten, von unseren Vorfahren überkommenen Rest animistischen Verstehens. In Ermangelung objektiver Kriterien gewinnt das animistische Denken sein Verständnis, indem es von sich auf anderes schließt. Sieht es etwas aus seinem Umfeld herausgehoben bewegt, z. B. entgegen einer vom Wind verursachten allgemeinen Bewegung, versteht es dieses Verhalten, in Analogie zu sich selbst als Animalischem, spontan als eine aktive und damit reale Eigenbewegung des durch sein Verhalten auffallenden Objekts - womit es in den für sein Überleben relevanten Fällen des Beutemachens und Gejagtwerdens auch richtig liegt. Und wegen der langen Erfolgsgeschichte dieser nützlichen Hypothese hält der alte Beutegreifer in uns an der Objektivität jeder Bewegung fest. Wenn sie sich bei Messungen nicht bestätigt, ist er lieber bereit, die Meßmittel für fehlerhaft zu halten, als seine natürliche Überzeugung infragezustellen. Trotzdem ist sie nur eine unzulässige Analogie zum Lebendigen, die Physiker, samt dem unangepaßten biomorphen Vokabular, schleunigst ablegen sollten. 100 Jahre Kino sollten Beweis genug sein, daß Bewegung ein Phänomen ist, das im Kopf des Zuschauers entsteht, wenn er wechselnde Bilder miteinander vergleicht - im Kino wie im Leben. Nicht das Kino erzeugt irgendeine Illusion sondern die eingefahrene Sehweise des Zuschauers tut dies von sich aus. Kino und TV machen sich diese nur zunutze und die Überzeugung von der unterschiedslosen Objektivität jeder Bewegung wird jeden Tag noch etwas anachronistischer. Dabei wußten und sagten schon die vorsokratischen Eleaten, "daß Bewegung nicht existiert", nämlich als eine objektive Eigenschaft des Bewegten.

3. Realprinzip und Relativitätsprinzip

Im Unterschied zu Newton setzte Einstein auf das Relativverhalten. Sein "Spezielles Relativitätsprinzip" lautet: "Die Grundgesetze der Physik besitzen für zwei Beobachter, die sich in geradlinig-gleichförmig gegeneinander bewegten Inertialsystemen befinden, dieselbe Form."3) So zutreffend diese Aussage ist, so wenig erklärt sie das dargestellte Verhalten, es sei denn, daß jemand glauben würde, daß dieselbe Form der Grundgesetze der Physik davon abhinge, daß sich Systeme "geradlinig-gleichförmig gegeneinander bewegen", obwohl sie diese Relation nur für den Beobachter besitzen, wie Einstein richtig feststellt. Aber sie können dem Beobachter immer nur dann relativ gegeneinander geradlinig-gleichförmig bewegt erscheinen, wenn sie objektiv kräftefrei sind und daher in ihrem Zustand bleiben. Und für kräftefreie Systeme besitzen die Kraftgesetze der Physik die selbe Form, nämlich die einfachste. Auslösend für ein physikalisches Verhalten ist nicht die vom Beobachteter hergestellte Relation (das wäre Magie) sondern sind die realen Kräfte bzw. ihr Fehlen, so daß wir zum Verständnis von Verhalten nicht ein Relativitätsprinzip sondern eine Realbetrachtung nach dem Realprinzip brauchen!

In der Physik macht das Realprinzip das Relativitätsprinzip überflüssig. Es ist immer schon dort, wo das Relativitätsprinzip immer erst hin will: Zu einer Zustandsbeschreibung von Kräften, bei der es auf die Bewegung des Bezugssystems nicht ankommt!

In dem von Einstein in seiner Schrift von 1905 "Zur Elektrodynamik bewegter Körper" für das Relativitätsprinzip in die Waagschale geworfenen Beispiel von Magnet und Leiter lösen Relativbewegungen zwischen beiden nur deshalb das Fließen von Strömen aus, weil mit der Relativbewegung jedesmal die Veränderung einer unsichtbaren dritten Realität einhergeht, die sich in der elektromagnetischen Wechselwirkung zeigt. Bewegung ist hier zugleich Eingriff in ein Feld!

4. Das Realprinzip und die Grundgesetze der Physik

Einstein fährt in seiner Schrift fort: "Beispiele ähnlicher Art, sowie die mißlungenen Versuche eine Bewegung der Erde relativ zum 'Lichtmedium' zu konstatieren, führen zu der Vermutung, daß dem Begriff der absoluten Ruhe nicht nur in der Mechanik sondern auch in der Elektrodynamik keine Eigenschaften der Erscheinungen entsprechen." Einstein erkannte richtig, daß die Mechanik mit der "absoluten Ruhe" kein Problem hatte, denn Newton verließ sich nicht auf die Ruhe oder die Bewegung von Körpern sondern nur auf die Änderung ihres Bewegungszustands als Zeichen einer objektiven Kraft (2. Axiom). Kräfte sind von uns herausgearbeitete Aspekte der Realität, die z. B. sich beim Aufeinanderwirken von Körpern zeigen (3. Axiom).5) Die sich mit ihnen befassenden Gesetze haben logischerweise in kraftfreien Bezugssystemen ihre einfachste Form. Daher ergibt sich nach dem Realprinzip als Theorem 1:

Die Grundgesetze der Physik besitzen für alle Realsysteme, auf die keine Kraft einwirkt oder die quasikraftfrei nur von Gravitationskräften hinreichend entfernter Quellen beeinflußt werden, dieselbe einfachste Form.

Bei hinreichend entfernten Quellen ist die Wirkung der Fremdgravitation meßneutral, da alle benachbarten Teile des Systems um praktisch gleiche Beträge, in gleicher Richtung und zugleich beschleunigt werden, so daß es in der Regel zu keinen Spannungen und Relativbewegung zwischen den Teilen kommt. (Auch das Licht fällt mit den Systemen mit, weshalb ja seine Geschwindigkeit dem Beobachter als konstant erscheint!) Und wo wir Erscheinungen nicht auf die einfachste Form bringen können, d. h. wo wir weitere Parameter brauchen, wissen wir dann, daß zusätzliche Kräfte im Spiel sind, z. B. die Eigengravitation des Systems oder seine Rotation. So wird Theorem 1 zur Meßlatte des Forschers. Eine Notwendigkeit, es an bestimmte Koordinatensysteme zu binden, ist nicht gegeben. Die Wahl des Koordinatensystems ist, wie die Wahl der Maße, eine reine Frage der Zweckmäßigkeit. Da es sich bei beiden um Relationen handelt, ist der Geist in ihrer Wahl souverän und muß sich nicht ängstlich etwas ermessen. Maße und Koordinatensysteme werden einzig durch Definitionen gewonnen und durch Konventionen zur Geltung gebracht. Und die Raumkoordinaten sind von der Zeitkoordinate dadurch unterschieden, daß Längenmaße uns nebeneinander, also zugleich, Zeitmaße aber in Abhängigkeit von einem Taktgeber nacheinander gegeben werden, was durch die digitale Zeitanzeige besonders anschaulich wird. Ihre Zusammengehörigkeit haben sie allein durch ihre Funktion als Maße. Das ist alles, was sich mit Erkenntniswert über das Verhältnis beider Arten von Koordinaten sagen läßt. Da sollten wir uns nichts mystifizieren und problematisieren lassen!

Die wissenschaftlich richtige Schlußfolgerung aus den mißlungenen Versuchen, eine Bewegung der Erde relativ zum "Lichtmedium" zu konstatieren, muß deshalb lauten, daß das wahre Verhalten physikalischer Dinge nicht von einer von uns hergestellten Relation, z. B. zur Sonne, bedingt ist (weil dies ja auch wieder Magie wäre) sondern nur vom Eigenzustand der Erde (Realprinzip). Bedingungen sind dinglicher Art! Erst die Erkenntnis des Eigenzustands physikalischer Körper, ihr über unsere relativierenden Wertungen erhabenes sich Erhalten im gleichen Zustand, wenn keine Kraft auf sie einwirkt, ermöglichte Newton, in der Mechanik von der Kinematik zur Dynamik voranzuschreiten. Ohne die Erkenntnis des Selbstverhalts physikalischer Gegenstände, der in der Mechanik ein Selbsterhalt ist, kann es in der Physik keine fundierten Aussagen geben! Und den Eigenzustand kann nur erkennen, wer sich seiner Rolle im Beobachtungsvorgang bewußt ist. Wer sich nicht als Teil seiner Wahrnehmungen erkennt und über seinem Anteil am Wahrgenommenen keine Rechenschaft gibt, nimmt im eigentlichen Sinne des Wortes nicht wahr und bleibt als Gefangener seiner relationistischen Denkmuster unfähig, objektive, d. h. den Eigenzustand der Objekte treffende Sachaussagen zu machen. Da Relationen nicht zur Objektebene gehören, kann die Bewegung physikalischer Körper allein (wenn mit ihr keine Verschiebung permanenter Wechselwirkungen einhergeht) gerade nichts bewirken und daher auch nichts erklären. Kinematische Erklärungen als Sacherklärungen sind illegitim,

ist doch Bewegung als Ortsveränderung lediglich die Veränderung einer durch den Beobachter hergestellten Relation und nicht die einer Sache!

Das ist sicher nicht "so schwer zu begreifen" und gibt auch keine Rätsel auf, wie Watzlawick meint, aber es ist doch so schwer zu akzeptieren, weil es der beutegreiferischen Sehgewohnheit zuwiderläuft, die dem Animistischen und Magischen verhaftet ist.

Erst nachdem Bohr geklärt hatte, wie weit Begriffe der klassischen Physik im Reich der Quanten tragen, konnte Heisenberg der Quantenmechanik mit der Unschärferelation ihre Grundlage geben. Sachverstand ist nicht etwas, was man einfach so hat, sondern den man vielleicht bekommt, wenn einen Realitätssinn und Wahrheitsliebe beflügeln, unangepaßte Denkgewohnheiten und falsche Erwartungen assoziierende Begriffe zu erkennen und abzulegen, was immer auch ein Stück Selbstüberwindung ist. Um die meist falsche Zuerkennung der Auszeichnung "objektiv" zu vermeiden, hilft der desillusionierende Grundsatz, korrekterweise nur noch "objektiv" zu nennen, was einem Objekt selbst zugehört. Dabei müssen wir uns aber im Klaren darüber sein, daß es eigentlich nur Subjekte "gibt", die erst durch unseren Zugriff zu Objekten werden. Letztlich spiegeln alle Merkmale, die wir herausfinden, an ihnen ausgeführte sensorische, mentale oder motorische Operationen wieder, die sie nur dadurch haben (s. Text I/B13). Daher können wir bei den Quanten auch nur gestörte Zustände erfahren, was Ausdruck unserer unaufhebbaren Erkenntnissituation ist.

5. Realsysteme, Realerklärung und Realaussage

Wie der aufmerksame Leser sicher bemerkt hat, verwende ich anstelle des gebräuchlichen Ausdrucks "Inertialsystem" den weniger üblichen Ausdruck "Realsystem", schon um die mit dem Inertialsystem verbundene überflüssige Problematik des absoluten Raumes zu vermeiden. Ich bin überzeugt, daß jedes System, von sich aus seinem Zustand erhält bzw. um Erhalt dieses Zustands kämpft, wenn äußere oder innere Kräfte auf es einwirken. Nicht weiter ableitbare Erhaltungssätze sind der Spiegel dieser Grundsituation. Realsysteme sind tatsächlich existierende Körper (wie die Erde) oder andere reale Erscheinungen, deren Teile durch etwas ihnen Gemeinsames bestimmt werden. Lebendige Wesen und dynamische Gruppen sind Realsysteme. Alle durch Kohäsionskräfte zusammengehalten Systeme, deren Verhalten durch die gemeinsame Schwerkraft der Komponenten bestimmt wird, wie das Planetensystem, sind Realsysteme.

Wird ein Verhalten in Bezug auf das System untersucht, in dem es sich ereignet, erhält man relevante Werte, z. B. für die Geschwindigkeit. Eine Geschwindigkeitsangabe ohne Bezug ist keine wissenschaftliche Angabe, denn ihre Wissenschaftlichkeit ergibt sich erst durch die Nennung ihrer nachvollziehbaren Voraussetzungen. Daher kann man nicht umgekehrt, durch das Bestreiten von Voraussetzungen, zu einer wissenschaftlichen Aussage kommen. Die Geschwindigkeit eines Läufers hat nur Relevanz in Bezug auf seine Bahn. Ohne diese Bahn wäre sie sinnlos. Die Geschwindigkeit eines Lichtquants hat vor allem in Bezug zur eigenen Quelle Aussagewert. Und wenn die für die Emittierung verantwortlichen Kräfte in allen Atomen gleich sind, weil alle Atome aus gleichen Grundbausteinen bestehen, werden wir für jedes Licht im Vakuum und in Bezug zu seiner eigenen Quelle, die gleiche Realgeschwindigkeit c messen, ohne daß die Gleichheit der Messungen einer weiteren Erklärung bedarf. Dies wäre das Beispiel einer noch zu überprüfenden Realerklärung. Dagegen gehört das Verhalten der Erde in Bezug auf die Sonne, ausgedrückt durch die Größe v, nicht zum Realgesetz der Ausbreitung irdischen Lichts, handelt es sich doch um eine vom Beobachter hergestellte Relation. Dem Rechnung tragend wird in den sog. Lorentztransformationen dieses subjektive relationistische Element v einfach herausgekürzt. Zur Entschuldigung dieses Kunstgriffs glaubte Einstein, eine ad hoc erfundene Erklärung von einem kompensierenden Verhalten der Meßmittel unter dem Einfluß von "Bewegung" abgeben zu müssen, obwohl er mit der letzteres ausschließenden These begann, daß "dem Begriffe der absoluten Ruhe ... keine Eigenschaften der Erscheinungen entsprechen". Tatsächlich wird der Denkfehler v mathematisch eliminiert, wodurch man ein richtiges d. h. mit den Messungen übereinstimmendes Ergebnis erreicht. Die richtige, aber in den Gleichungen versteckte Realaussage, daß es auf die Bewegung nicht ankommt, leiht der gegensätzlichen Verbalaussage, von der großen Bedeutung ihres mehr oder weniger verdeckten Wirkens, den Anschein der Richtigkeit. Nach dem Realprinzip ist die Erfahrungstatsache, daß es auf die sog. "Bewegung" der Quelle nicht ankommt, solange sich ihre Distanz zum Beobachter nicht ändert, dagegen eine Selbstverständlichkeit, weshalb sie das rein relationistische Element v gleich außen vor läßt. Das Realprinzip reicht aus, um dies zu verstehen und um zu erkennen, daß unendlich viele Realsysteme möglich sind, in denen die Gesetze der Physik in ihrer einfachsten Form gelten - genau das, was Einstein eigentlich zuerst beweisen wollte, so daß man mir nicht die Ergebnisse der relativistischen Forschung entgegenhalten kann, die aber durch das Realprinzip ihre nüchterne Aufklärung finden - eine für ein zukünftig besseres Verständnis physikalischer Phänomene notwendige Ent-Täuschung.

Wegen seiner fehlenden Unterscheidung von Denken und Sein und der mit ihr einhergehenden Überzeugung von der Objektivität jeder, auch der kräftefreien Bewegung, hatte Einstein die Nichtmeßbarkeit der Geschwindigkeit des eigenen Systems als bloße Nichterkennbarkeit infolge einer kompensatorischen Anpassung der Meßmittel gedeutet, so als würde Ausgedehntes sich in Bewegungsrichtung an einem unsichtbaren Raum stauchen. Dabei zeigt schon die bloße Existenz des Dopplereffekts bei intergalaktischem Licht, daß sich Distanzänderungen zu Quellen der Erkennbarkeit nicht entziehen, auf was sich die Theorie des Urknalls verläßt. Der Messung entzieht sich nur ein gedachtes Verhalten des eigenen Systems. Doch es gilt c +/- v und damit echte Verhaltenskonstanz, die einzige, die zu erwarten vernünftig ist, solange keine Kraft einwirkt, wenn uns Licht aus einer mit v sich entfernenden oder nähernden Quelle begegnet, denn Begegnung ist - im Gegensatz zur Bewegung - etwas Tatsächliches, weshalb das Tempo eines solchen Lichtstrahls unweigerlich meßbar sein muß. Es gibt keinen vernünftigen Grund, die Geschwindigkeit des Lichts rot- und blauverschobener Quellen nicht messen zu wollen, wird damit doch auch eine genauere Bestimmung der Hubble-Konstante möglich.

6. Eine Frage der Vernunft

Manchem wird meine geradlinige Betrachtung angeblich schwieriger Probleme etwas naiv vorkommen. Aber ich denke, sie erscheint nur naiv, weil für das Verständnis nach dem Realprinzip alle hochkomplizierten und für Verwirrung sorgenden Manipulationen, die immer nur versuchen, die subjektiven Elemente von Beobachtungen auszugleichen, um mit der Erfahrung in hinlängliche Übereinstimmung zu kommen, überflüssig sind, wie ich zeigen konnte. Bei der erkenntniskritischen Bewertung bestehender Lösungen ging es mir um das von ihnen benutzte Prinzip. Und immer, wenn es ums Prinzip geht, geht es um die Frage nach seiner Vernünftigkeit. Indem Gründe aufgezeigt werden, die Vernünftigkeit verschiedener Prinzipien gegeneinander abzuwägen, ergibt sich die Chance, durch einen Quantensprung des Geistes vernünftiger zu werden und so animistische und magische Denk- und Sprechgewohnheiten bemerken und ablegen zu können. Das kann niemals verkehrt sein! Prinzipien sind ein Spiegel der Vernünftigkeit.

Wenn wir Relationen als solche erkennen und uns klar machen, daß Verhaltensänderungen nur von Realitäten ausgehen können, dann lassen wir die Probleme der subjektiven Ebene der Relationen ganz einfach hinter uns. Umdenken zu lernen und Objekt- und Subjektsprache zu unterscheiden, wie es Watzlawick, einen Gedanken Russells aufgreifend, fordert, und mit dem Realprinzip daraus die Konsequenzen zu ziehen, erscheint mir geboten, um die Sachgerechtheit von Aussagen sicherzustellen. In einer Untersuchung über die "Begriffs- und Theorienbildung in heutiger wissenschaftstheoretischer Sicht" kommt Wilfried Kuhn, Direktor des Instituts für Didaktik der Physik der Universität Gießen, zu dem Ergebnis: "Die beiden Angelpunkte der physikalischen Methode sind demnach die 'Prinzipien der Vernunft', d. h. die apriorischen Konzepte und das 'Experiment'"4). Diese Aussage ist schon deshalb richtig, weil es keine geeigneteren Kriterien gibt. Dabei denke ich, daß es der Physik nicht so sehr an Wissen mangelt, sondern mehr an der Fortentwicklung des zweiten "Angelpunkts der physikalischen Methode", den die Experimente und das Wissen erst verständlichmachenden "'Prinzipien der Vernunft', d. h. den apriorischen Konzepten". Mit dem Realprinzip ein solches erkenntnisstrategisches, der Aufklärung von Sachverhalten dienendes Konzept vorzulegen und einen Prinzipienwechsel vorzuschlagen, der eben kein modischer Paradigmenwechsel sondern eine Frage der Vernunft ist, sehe ich als legitime Aufgabe der Erkenntniskritik.5)

-  ENDE des Vortrags  -

Literatur und Anmerkung:
1)Paul Watzlawick, Vom Unsinn des Sinns oder vom Sinn des Unsinns, Picus Wien 1993, S.30
2)Isaac Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, ausgew., übersetzt, eingel. und herausg. von Ed Dellian, Felix Meiner Verlag Hamburg 1988, S. 53
3)Ernst Schmutzer, Relativitätstheorie - aktuell, Teubner Leipzig, 4. Aufl. 1989, S. 60
4)Wilfried Kuhn, in: Wissenschaftstheorie und Didaktik der Physik, Vortrag auf der Physikertagung 1984 der DPG, Fachausschuß Didaktik der Physik, S.5
5)Anmerkung: Es dürfte hinreichend deutlich sein, daß nur Aussagen auf der Objektebene Sacherkenntnis und Sachverständnis vermitteln und Bestand haben können. Oder um mit Parmenides zu sprechen: "Und daß man es (als Sein) erkennt, ist dasselbe wie die Erkenntnis, daß es ist. Denn nicht ohne das Sein, das der Aussage Bestand gibt, wirst Du das Erkennen finden." (Frag.8, Z.35 u. 36) Dies ist die früheste Formulierung des Realprinzips! Diese Stelle wird gern so gedeutet, als hätte Parmenides behauptet, Wissen und Sein bzw. Denken und Sein wären dasselbe, obgleich nichteinmal Denken und Wissen dasselbe sind, auch wenn dies natürlich sehr praktisch wäre (u. a. C. F. v. Weizsäcker in "Zeit und Wissen", dtv München, S.27 bzw. 878), wobei jedoch die Aussage des Lehrgedichts in ihr Gegenteil gewendet wird. Erst durch die Unterscheidung von Denken und Wissen, Relation und Realität und somit von Schein und Sein können wir wirklich erkennen was ist und die "Meinungen der Sterblichen", die doxa, hinter uns lassen und zu Sachverstand kommen. Wer freilich kein Seins- und Sachverständnis besitzt, wird solchen Unterschied nicht bemerken und somit keinen Zugang zum objektiven Sein finden, um den es Parmenides ging und um das es jeden Naturwissenschaftler gehen müsste.

© HILLE 1995
Anmerkung 5) Sept.2002 ergänzt/gekürzt; März 2006 und Juli 2013 geringfügig ergänzt


anläßlich des Vortrags verteilt und projiziert (11/2001 erweitert):

Statement zu der Behauptung, daß in Beschleunigern die Bewegungsabhängigkeit der Masse bewiesen würde, weil deren Anwachsen sie hindere, c zu überschreiten

Newtons 3. Axiom zeigt, daß Kraft eine Erscheinung der Wechselwirkung ist: Eine Kraft kann nur insoweit aufscheinen, als ihr Träger auf Widerstand trifft; daher gilt immer actio = reactio. Actio und reactio bedingen einander. Dadurch kann auch der masseärmere zweier Kombattanten, selbst wenn seine Massen gegen Null geht, max. nur die Geschwindigkeit des Stärkeren erreichen, denn mit der Synchronisation ihrer Bewegungen bricht ihre Wechselwirkung ab. Das ist auch in einem Synchrotron nicht anders. Das Tempo eines Mediums als Grenzgeschwindigkeit eines von ihm beschleunigten Objekts hat daher weder etwas mit der bewegten Masse, noch mit der Größe der Fließgeschwindigkeit, noch mit Art oder Höhe der eingesetzten Energie sondern einzig und allein mit dem zwangsläufigen Ende der Wechselwirkung bei Gleichlauf zu tun, z. B. von Feld und Teilchen. Gerade einen Physiker sollte auszeichnen, daß er soviel von Wechselwirkung versteht, daß er sich eine Grenzgeschwindigkeit nicht als Problem einreden läßt oder sie anderen einreden möchte. Ohne das Verständnis der Wechselwirkung, als dem Ursprung der Kräfte, gibt es keinen Zugang zur Wirklichkeit, also zu dem, was wirkt. Sie ist das Herzstück der physikalischen Wissenschaft, als Teil der Kunde vom Seienden, das wir uns daher um keinen Preis entreißen lassen sollten. Wohin der Verlust an Wirklichkeitsverständnis führt, zeigt die verbreitete Akzeptanz der hier untersuchten relativistischen Behauptung, von der Bewegungsabhängigkeit der Masse, die eine positivistische Pseudoerklärung ist, weil Einstein glaubte, ohne den angeblich "metaphysischen" Begriff der Kraft auskommen zu müssen. Um wirklich positivistisch zu sein, hätte er jedoch auf jede materielle "Erklärung" von Phänomenen verzichten müssen. Nur so hätte er Fehler vermeiden können. Doch es gibt nichts, was schon für sich selber eine "Kraft" ist, sondern mit dem Begriff der "Kraft" beschreiben wir - in Analogie zur Muskelkraft - lediglich das Einwirken von Körpern aufeinander in einer uns verständlichen Weise.

Den Anfängen einer Indoktrination zu wehren heißt, in keine Problemfalle zu laufen.
"Wie die meisten Einsteinkritiker hatte ich früh erkannt, daß den relativistischen Schreibtischtheoretikern die physikalische Wirklichkeit völlig fremd ist."
Gotthard Barth



    A N A N K E 1

    von Roswitha Safar

    Wir müssen
    unser Verhältnis zur Realität
    täglich neu überprüfen
    und abstecken, sagst du,
    ein Puzzle, sagst du,
    täglich neu zu legen,
    wenn es an den Rändern wegsank,
    unscharf wurde
    - oder wenn das Herzstück einbrach.

    Entgegenhalten
    der Übermacht der Zerstörung
    die immer neue Unvollkommenheit
    unserer Einsichten.

          Mit den Rastern der Sprache
          die uns blieben, sagst du,
          immer wieder
          in die glühenden Farben
          von Schmerz und Hoffung getaucht...

1griech. Göttin des Schicksals

(entnommen: AGEMUS Nachrichten - Wien Nr.38/Febr.1995 und dem Gedichtband "... und Himmel, Stein und Wasser auszuschöpfen" Wien 1996, von der Verfasserin veröffentlicht und dem Autor mit Widmung zugesandt. Zwei weitere Gedichte (ohne Reim) von ihr s. "Gäste/Beiträge")

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