Die Waage der Welt



Die "Welt" eines Lebewesens ist kein objektives Abbild der außerhalb von ihm befindlichen Welt, sondern seine Welt ist ihm durch die evolutionäre Selektion selbsterfundener Wahrnehmungsmuster und opportuner Bedeutungen so auf seine Umgangsmöglichkeiten und Bedürfnisse hin anverwandelt, daß das lebendige System befähigt ist, mit dem Milieu wie mit sich selbst umzugehen, d. h.: die Welt, mit der es umgeht, gehört zu seinem eigenen System! Maturana und Varela haben in ihrem bahnbrechenden Buch "Der Baum der Erkenntnis" Kognition mit dem erfolgreichen Steuern eines U-Bootes verglichen, in dem der Steuermann nichts von seinem Boot und dem Meer weiß, sondern nur zwischen den Anzeigen der Geräte und der Stellung der Hebel und Knöpfe des Bootes jene Relationen in einer bestimmten Reihenfolge herstellen muß, die ihm vorgeschrieben sind. Sie wollten damit zeigen, daß die Fitneß eines Lebewesens auf dem Herstellen innerer Relationen beruht.

Auf der Ebene der Empfindungen sind Welt und Ich nur zwei Schalen einer Waage, die um einen Gleichgewichtszustand schwankt, bei dem eine als "relevant" empfundene Störung kompensatorische Impulse auslöst.

Innere und äußere Zustände sind Zustände eines Systems! Die von Maturana "Perturbationen" genannten "Störungen" des Nervensystems, verstehe ich als Gleichgewichtsstörungen, die ihren Ausgang von der Objektschale haben. Meistens jedoch geht die Störung vom als "Subjekt" empfundenen Schale aus, z. B. vor dem Sprung über einen Graben wägt das System die Empfindung der notwendigen Weite des Sprunges mit der Empfindung der zur Verfügung stehenden Kraft gegeneinander ab und erwägt dabei das Maß der einzusetzenden Kraft. Ebenso ist auch das Nachdenken ein Erwägen von Meinungen, wobei wir Erfahrung und Logik in eine der Waagschalen werfen. Das ist ein Vorgang, der letztendlich zwischen der linken, für Explikation sorgenden Hirnhälfte, und der rechten Hirnhälfte abläuft, in der die gewissermaßen die zur Quersumme verrechnete onto- und phylogenetische Erfahrung verarbeitet ist. Wenn wir das Gefühl haben, daß verbaler Ausdruck und implizites Wissen (das eben ggf. weit gewichtiger sein kann als jede bewußte zufällige Einzelerfahrung) im Gleichgewicht sind, sind wir geneigt, die Explikation für "wahr" zu halten. Die Wahrheit ist der letzte Stand des (durch die Waage der Welt erwägten) Wissens (Mitterer). Von der Feinfühligkeit dieser Waage hängt die Sicherheit und Effektivität des Umgangs mit dem Milieu ab, also dasjenige, was sich uns als "Fitneß" des Lebendigen darstellt.

Entgegen seiner Absicht ist es auch Mitterer, trotz seiner großen Aufklärungsarbeit, nicht gelungen, den Begriff der Wahrheit abzuschaffen, weil er für den Geist zielführend ist, unabhängig davon, was sich hinter dem Begriff verbirgt. "Wahrheit" hat viel mit der Feinfühligkeit zu tun, wie sie durch das Fingerspitzengefühl verkörpert wird: sie ist die Ausgewogenheit einer Aussage vor dem Hintergrund des Wissens. Dike, die Göttin der Rechtsprinzipien, steht mit ihrer Waage in der Hand für die Wahrheit, die uns zu erkennen möglich ist. Ob ein Urteil gerecht ist - im Gericht wie im Leben -, wird immer nur vor dem Hintergrund unseres Wissens und unserer Kriterien entschieden. (Daß Urteile oft genug nur zur Stabilisierung herrschender Kreise bzw. Paradigmen gefällt werden, ist ein anderes Problem.)

Was die Erfahrung von Ernst Mach des Einsseins seiner Empfindungen mit der Welt betrifft, so ist diese für mich die Erfahrung der Einheit von Subjekt und Objekt. Fernöstliche Meditation ist eine mentale Technik, durch Konzentration sich dieser Einheit bewusst zu werden. Doch bin ich im Zustand des Einsseins nicht außerhalb von mir, wie mancher dann meint und lehrt, sondern ich erkenne: ich bin zwar ein Teil der Welt - doch diese ist auch ein Teil von mir! Das ist die ganze Wahrheit. Im Lichte dieser Erfahrung ergeben die Worte der Göttin bei Parmenides ihren höchsten, weil je nicht zu überholenden Sinn: "Diese (antagonistische) Weltordnung und ihre Entfaltung künde ich dir in der Scheinhaftigkeit ihres Wesens, so daß keines Menschen Meinung dich je überholen wird." (nach K. Riezler, Quelle s. (II/5a)



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