Vom Schein zum Sein

Das Lehrgedicht des Parmenides (Gesamttext)


Vorbemerkung
Zum besseren Verständnis meiner Interpretation und Zusammenstellung der Verse des Lehrgedichts empfehle ich dringend die Einführung in das parmenideische Denken auf (II/5) "Was uns hindert, die Einheit des Daseins zu sehen" zu lesen. Seine Einleitung, hier "I. Das rechte Bedenken" genannt, ist die Wiedergabe der im vorhergehenden Text (II/5a) "Parmenides im Klartext" erarbeiteten Fassung. Deren Fußnoten werden hier nicht wiederholt. Die Leerzeilen in den einzelnen Untertiteln sind auch durch die Berücksichtigung der Konkordanz zur Vorlage bedingt, Auflistung der Konkordanz Diels/Kranz - Hille nach den Fußnoten. Der Schein ist immer das, was menschliches Denken und Fühlen aus den durch die Sinne hereinströmenden neutralen Daten zum eigenen Verständnis macht. Näheres zur Rolle des Beobachters s. insbesondere in Text (II/7a).

Gliederung
I. Das rechte Bedenken
II. Zwei Wege des Denkens
III. Der einzig gangbare Weg
IV. Der Grund-Satz
V. Denken und Sein
VI. Das antagonistische Denken
VII. Die Weltformel
VIII. Der Kosmos
IX. Schlußbemerkung der Göttin zum Reich des Scheins
X. Der Kommentar des Plutarch
Fußnoten
Konkordanz
Mein Vorgehen
Anmerkungen und Endanmerkung


Parmenides

Vom Schein zum Sein

I. Das rechte Bedenken

[1] "Soweit mein Sinn begehrte, trugen mich die Intuitionen.
Nachdem Themis und Dike mich auf dem kundereichen Weg gebracht hatten,
der da allein überallhin führt den [nun um den Weg] wissenden Mann, eilte ich auf ihm dahin;
auf ihm bewegten mich die vieles deutenden Intuitionen
und das rechte Bedenken wies mir den Weg.

[6] "Den Schein verlassend,
vom Haupte zurückgeschlagen die Schleier,
lenkte mein Begehren zum Lichte die Fahrt,
doch was es vernahm,
klang schrill."

[11] "Da steht das lichte Tor am Pfade von Tag und Nacht,
ein Türsturz umschließt es und eine steinerne Schwelle -
große Flügeltüren füllen es;
Die unerbittliche Dike verwahrt den richtenden Schlüssel."

[15] "Ihr schmeichelte das rechte Bedenken, so wurde sie überzeugt.
Nachdem die Denkbarriere gefallen, sprang auf das Tor
und öffnete breit den ansonsten verschlossenen Abgrund (zwischen Schein und Sein),
die erzbeschienten Pfosten drehten sich in ihren Pfannen,
und das rechte Bedenken lenkte gerade hindurch Intuition und Bewußtsein."

[22] "Und die Göttin empfing mich, ergriff voll Huld meine Rechte,
nahm das Wort und sprach: "Jüngling, sei gegrüßt!
Göttlichen Lenkern gesellt, mit den Intuitionen die dich trugen, meinem Hause nahend.
Kein geringes Geschick, sondern Themis und Dike sandten dich, diesen Weg zu gehen,
der da außerhalb liegt der von Menschen betretenen Pfade."

"So sollst du denn alles erfahren: der wohlgerundeten Wahrheit1 nie erzitterndes Herz
und das Scheinwesen menschlicher Setzung, die da ohne Verlaß ist und ohne Wahrheit.
Aber dennoch sollst Du auch das erfahren,
wie das nur nach dem Anschein Gesetzte geltend wird
und solche Geltung alles mit ihrem Scheinwesen hat durchdringen müssen."2

II. Zwei Wege des Denkens

"Mir ist das Sein3 das allen (Seienden) Gemeinsame.
Von wo ich auch beginne,
immer wieder komme ich darauf zurück."

"Wohlan, so will ich denn sagen - du aber vernehme und pflege die Kunde -,
welch Wege des Suchens und Fragens alleine denkbar sind:
Der eine, daß es (das Sein) ist, und daß es nicht nicht sein kann;
das ist der Weg der Überzeugung der zur Wahrheit gehört.
Der andere aber, daß es (das Nichtsein) nicht ist und nicht sein kann -
ein Weg, so sage ich, ganz und gar nicht zu begehen,
denn Nichtsein kannst du nicht erkennen noch etwas darüber sagen -
es nicht zu (be-)greifen."

III. Der einzig gangbare Weg

"So bleibt noch die Kunde des einzigen Weges: Das Sein ist.
Auf diesem Wege stehen viele Zeichen.
Als seiend ist es ungeboren und unverderblich, ganz, einzig, ohne Geschwister,
unerschütterlich, nicht erst zu vollenden:
Es ist nicht ein Vergangenes, noch ein Zukünftiges,
da es Jetzt4 ist, je zusammen alles, als Eines zusammenhaltend."

"Denn welchen Ursprung seiner willst Du erkunden?
Wie, woher soll es gewachsen sein?
Weder lasse ich sagen oder denken "aus dem Nichtsein -"
unsagbar und undenkbar ist doch, daß es nicht ist.
Welches Muß hätte es wohl gedrängt, früher oder später
anfangend mit dem Nichts, zu werden?
So ist es entweder ganz und gar oder überhaupt nicht!"

"Noch kann die Kraft der Überzeugung zulassen,
daß aus dem Sein etwas neben ihm entstehe.
Daher hat Dike das Entstehen und Vergehen nicht freigegeben,
nachlassend die Fesseln, sondern hält sie fest."4a

"Es ist auch nicht teilbar, denn es ist ganz von derselben Stärke,
nicht da ein etwas Mehr, das es verhinderte zusammenzuhalten,
noch ein etwas Weniger, ganz voll ist es des Seins.
Im Zusammenhalten ist es ein Ganzes:
denn Seiendes bleibt dem Seienden zunächst."5

"Aber da es äußerste letzte Normung ist, ist es überallher vollendet -
vergleichbar der Maße einer wohlgerundeten Kugel -,
von der Mitte aus überall von gleicher Kraft -
denn es darf nicht da oder dort stärker oder schwächer sein."6

IV. Der Grund-Satz7

"Du mußt sagen und erkennen: Sein ist.
Es muß sein. Denn Nichtsein ist nicht.
Das dir stets zu sagen, halt' ich dich an.
Ich warne dich vor jenem Weg des Suchens.
Dann aber auch vor dem, auf dem die Sterblichen einherstraucheln,
des Wissens bar, die Doppelköpfigen.
Denn Hilflosigkeit richtet aus in ihrer Brust einen schwankenden Sinn.
So werden sie dahingetrieben, taub zugleich und blind, vor den Kopf geschlagen,
Geschlechter, die nicht zu entscheiden vermögen,
bei denen Sein und Nichtsein als dasselbe gilt
und wieder nicht als dasselbe Geltung hat,
und jeder Weg sich wieder zurückwendet."

"Denn das kannst du nie erzwingen, daß Nichtsein sei.8
Drum halte von diesem Weg des Fragens fern den Gedanken,
laß dich nicht auf ihn zwingen, nicht durch die Gewohnheit und ihr vieles Erfahren,
nicht durch das Walten der ziellosen Augen, des brausenden Gehörs und der Zunge -
entscheide, dich besinnend, auf die streitvolle Prüfung, die aus mir verkündete:
nur ein Weg bleibt über."

V. Denken und Sein9

"Und daß man es (als Sein) erkennt, ist dasselbe wie die Erkenntnis, daß es ist.
Denn nicht ohne das Sein, das der Aussage Bestand gibt, wirst Du das Erkennen finden.10
Denn nichts ist und wird sein ein anders neben und außer dem Sein.
Da das Geschick es gebunden hat ganz und unbewegbar zu sein,
ist alles nur Name, was die Sterblichen da gesetzt haben,
vertrauend, es sei wahr: Entstehen und Vergehen,
bald Sein und bald Nichtsein, Wechsel des Ortes und Wandel des Aussehens."

"Mit dem Nous erschaue das Abwesende als ein beständig Anwesendes:
denn er wird das Sein nicht abschneiden von seinem Zusammenhalt
und es nicht auf jede Weise überallhin nach einer Ordnung zerstreuen,
noch wieder zusammenstellen."

"Hier ende ich mein festes Künden und Erkennen im Reiche der Wahrheit.
Von hier aus erfahre das Scheinwesen der sterblichen Setzungen,
hörend meiner Worte trügendes Gefüge."

VI. Das antagonistische Denken

"Sie (die Sterblichen) kamen überein, zwei Gestalten mit Namen zu benennen -
ein Eines aus diesen beiden könne nicht sein - darin irrten sie.
Sie unterschieden sie als Gegensätze an Gestalt
und setzten ihre Zeichen voneinander abgesondert:
hier der Flamme ätherisches Feuer, das milde, gar sehr leichte,
sich selber überall dasselbe,
nicht dasselbe aber der anderen: dort aber auch dies für sich allein,
als Gegensatz: lichtlose Nacht, dicht und schwer an Gestalt."

"Aber da alles als Licht und Nacht benannt war
und diese beiden nach ihren Kräften zugeteilt waren diesem und diesem,
ist alles zugleich voll von Licht und unsichtbarer Nacht,
die beide einander gleich mächtig sind,
und es gibt nichts, das nicht einem der beiden zugehört."

"Diese (antagonistische) Weltordnung und ihre Entfaltung
künde ich dir in der Scheinhaftigkeit ihres Wesens,
so daß keines Menschen Meinung dich je überholen wird."10a

VII. Die Weltformel11

"Als ersten von allen Göttern ersann sie (die gebietende Göttin) den Eros."12

"Wenn Frau und Mann zusammen die Keime der Liebe mischen,
formt die Kraft, die diese (Einheit) in den Adern aus verschiedenem Blute bildet,
wohlgebaute Körper, wenn sie nur die Mischung bewahrt.
Denn wenn die Glieder, nachdem der Samen vermischt worden ist,
einander bekämpfen und keine (neue) Einheit bilden,
werden sie, indem der Same zwiefach bleibt, schrecklich das entstehende Geschlecht schädigen."13

"Die (uns) näheren Kränze (des Weltsystems) füllten sich mit ungemischten Lichte,
die folgenden mit Finsternis, dazwischen ergießt sich des Lichtes Anteil -
in der Mitte aber ist die Göttin, die alles lenkt;
sie waltet überall der weherfüllten Geburt und Mischung
und sendet das Weib dem Manne, den Mann dem Weibe zur Paarung."

"Wie der Nous je die vielirrenden Glieder gemischt sieht,
so ist er den Menschen (selbst) beigegeben:
denn es ist immer dasselbe, was da als Art der Glieder auch in den Menschen sinnt:
bei allem und jeden - das Mehr an Mischung nur ist ihnen Gedanke."14

VIII. Der Kosmos

"Erfahren wirst du des Äthers Artung und alle die Zeichen im Äther
und der reinen heiligen Sonne Fackel vernichtendes Wirken und woher sie entstanden
und das schweifende Wirken und Sein des rundäugigen Mondes;
wirst erfahren auch den rings umfassenden Himmel, woher er ward,
und wie Anankes14a Führung ihn zwang, das Gefüge der Sterne zu halten."

"Wie die Erde, die Sonne, der Mond, der gemeinsame Äther, die himmlische Milchstraße
und der äußerste Olympos und der Sterne heiße Kraft aufbrachen zu entstehen."

Parmenides lehrt, wie verschiedene Gewährsmänner berichten,
daß die Mischung aus Dichtem und Dünnem die milchähnliche Farbe [der Milchstraße] ergibt;
daß die Sonne und der Mond aus dem Kreise der Milchstraße abgeschieden worden sind,
die Sonne aus der dünneren Mischung, d.h. dem Heißen,
der Mond aus der dichteren Mischung, die kälter ist;
daß die Erde entstanden ist durch das Herabsinken des Dichten;
hat als erster die Erde rund genannt, wie Theophrast bezeugt;
daß die Luft eine Ausscheidung der Erde sei, infolge deren gewaltsamer Zusammenziehung;
daß der Morgenstern mit dem Abendstern identisch ist
usw.

IX. Schlußbemerkung der Göttin zum Reich des Scheins

"So ward dies, nach des Scheines Denkweise,
und ist nun und wird dann weitergenährt sein Ende nehmen.15
Einem jeden einzelnen aber haben die Menschen einen Namen als Zeichen gesetzt."

X. Der Kommentar des Plutarch* (nach Jaap Mansfeld)

Aber weder hat Parmenides, wie Kolotes behauptet, das Feuer abgeschafft, noch das Wasser, noch den gefährlich-steilen Abhang [den Abgrund zwischen Schein und Sein?], noch die bewohnten Städte in Asien und Europa. Im Gegenteil: er hat sogar eine Weltordnung beschrieben und, indem er Elemente - das Helle und das Dunkle - sich miteinander vermischen läßt, bildet er aus ihnen und durch sie alle Phänomene. Hat er doch gar vieles über Erde und Himmel, Sonne und Mond und Sterne gesagt, die Entstehung des Menschen behandelt und überhaupt keine wichtige Frage unerörtert gelassen - d.h. natürlich, insofern letzteres einem frühen und übrigens originellen Naturphilosophen (der sich nicht mit fremden Federn schmückte) möglich war. Früher als Sokrates und Platon hat er nämlich begriffen, daß die Wirklichkeit sowohl einen erkennbaren als einen meinbaren Teil enthält und daß das Meinbare etwas Unzuverlässiges ist, in vielerart Zuständen und Wandlungen Befindliches, indem es untergeht und wächst und sich jedem andern gegenüber anders und für die sinnliche Wahrnehmung nicht immer in derselben Weise demselben gegenüber verhält, während das [logisch] Erkennbare anderer Art ist; es ist nämlich aus einem Glied und unbeweglich und nicht entstanden, wie er selbst sagt, und mit sich selbst identisch und bleibend im Sein. Indem nun Kolotes einzelnes aus seinem Zusammenhang löst und es dann wörtlich, und d.h. falsch, interpretiert und sich statt auf die Sache auf den Buchstaben beruft, behauptet er, daß Parmenides alles abschafft, wenn er annimmt, daß das Seiende eins ist. Parmenides jedoch schafft keine von beiden Naturen ab, sondern gibt jeder Natur [des Wissens: der logisch erkennbaren wie auch der meinbaren] das ihr Zukommende. (Einfügung in [ ] vom Autor)
*Plutarch (45 -120) griech. Philosoph und Biograph


Fußnoten
1Wahrheit ist Gewißheit begründet auf innerer Logik
2Der Schein ist unser geistiges Modell der Wirklichkeit, auf das hin wir mit ihr denkend und handelnd umgehen, aber eben nicht die Wirklichkeit selbst (s. auch Fußnote 13 Von "Parmenides im Klartext"). Wie alles, ist auch menschliches Wissen eine Mischung, nämlich aus objektiven und subjektiven Elementen (Gliedern), wobei die subjektiven Elemente des Wahrnehmens und Denkens die objektiven Daten an die menschliche Verständnisfähigkeit adaptieren. Durch die innige Verbindung des Objektiven und Subjektiven entsteht jenes qualitativ Neue, der Schein, der notwendig eine Differenz zum Sein hat, die es aufzuklären und nicht zu vertuschen gilt.
3"Sein" ist sowohl Eigenschaft von Seienden, als auch Summe alles Seienden. Wenn einzelnes Seiendes oder die Summe des Seienden gemeint ist, spreche ich - im Gegensatz zu Riezlers Text - nach Möglichkeit vom "Seienden". Ob dabei dann die Summe alles Seienden oder das einzelne Seiende gemeint ist, ist nach dem Kontext zu entscheiden. Wenn man diese drei Unterscheidungen - Eigenschaft, einzelnes Seiendes und Summe alles Seienden - gewissenhaft trifft, verschwindet aller mystische Schauder, für den offenbar immer ein großes Bedürfnis besteht. Für mich zeugt das Gedicht von hohen Realitätssinn und stringenter Logik.
4Der Anschein der Zeitlichkeit entsteht durch vergleichende Unterscheidungen des Beobachters, während zu sein zeitlos, also nichteinmal "jetzt" ist. Das "Jetzt" gehört zu dem, was die Göttin "meiner Worte trügendes Gefüge" nennt (letzte Zeile von V., eine Schlüsselzeile), da sie (logischerweise) das Vokabular der Sterblichen benutzen muß, um sich ihnen mitteilen zu können. Doch wer sich nur an den trügenden Wortlaut hält und nicht den Sinn des Gesagten erfaßt, versteht sie gerade nicht, ein Problem (nicht nur der Philologen), das Plutarch anspricht, indem Kolotes "statt auf die Sache sich auf den Buchstaben beruft." Die Differenz liegt in der Natur der Sache, letztlich in der von Sein und Schein, und ist keine Unzulänglichkeit des Gedichts, dem diese Differenz lediglich Gegenstand ist.
4afrüheste Formulierung des Erhaltungssatzes (der Energie). Erhalt bedarf keiner Begründung.
5Der Gedanke des zusammenhaltenden Einen und Ganzen ist die beste Beschreibung dessen, was Gravitation ausmacht. Siehe auch meine "Gedanken zur Gravitation" (Text I/B5) und "Für eine Akzeptanz ganzheitlicher Effekte (Text I/C5).
6Nach Newtons Gravitationsformel eines (punktförmigen) Zentralkörpers ist, "von der Mitte aus", auf jeder "wohlgerundeten Kugel"(-oberfläche) die Gravitation in ihrer Summe "überall von gleicher Kraft".
7Der allgemeinste und allgemeingültigste Satz, der sich nach der Logik ergibt; die Grenze des redlich Sagbaren.
8Auch "Urknall" und "Schöpfung" beschreiben nur Episoden des Seienden mit Worten der Sterblichen.
9Aussagen zum Verhältnis von Denken und Sein - die Realismusfrage - sind der Kern der Verkündigung.
10Im Versuch, sich der von Parmenides geforderten selbstkritischen Distanz zu entziehen, wird dieser mißverständliche einzelne Vers - unter Ignorierung des Geistes des ganzen übrigen Gedichts und der eleatischen Lehre - vereinfachend gern dahin gedeutet, als hätte Parmenides die Identität von Denken und Sein gelehrt. Es kann jedoch keine falschere Deutung geben als diese, da ja das Lehrgedicht überhaupt nur geschrieben wurde, um die Differenz von Denken und Sein aufzuzeigen und in der so gewonnenen kritischen Distanz das Denken auf die Spur des Seins setzen zu können. Für mich ist der Vers die Aufforderung, auf der Realebene mit Aussagen zum Objekt und nicht auf der Ebene vom Beobachter hergestellter Relationen zu argumentieren - was ich "das Realprinzip" nenne -, eine Unterscheidung, die ein wesentliches Element eleatischen Denkens ist. Siehe hierzu auch meinen ersten DPG-Vortrag "Das Realprinzip als Erkenntnisstrategie" (Text I/A4), wo ich in Anmerkung 5) diesen Satz "die früheste Formulierung des Realprinzips" nenne.
10aErkenntniskritisch kann diese Strophe auch als Lehre von der Einheit von Subjekt und Objekt verstanden werden, d.h. gedanklich können wir nur mit dem umgehen, was wir als Wissen und Empfindungen im Kopf haben. Der gedankliche Rückgriff auf eine außerhalb unseres Denkens liegende "objektive Welt" ist eine Illusion. (s. hierzu auch F. Seibold: "Komödiantische Philosophie" in Datei (II/16) Für Parmenides war diese Strophe auf alle Fälle die höchstmögliche Aussage überhaupt, daher durch keines Menschen Meinung "je zu überholen" - s. den vorausgehenden Text (II/3) "Das Jenseits der Philosophie" und (III/7) "Die Waage der Welt". Ontologisch kann diese Strophe aber auch als die Verkündung des Einsseins mit dem Urgrund aller Dinge verstanden werden, wie es später die Mystiker lehrten - s. die Texte (II/11) und (II/12) zu Meister Eckhart mit Paralellen zu Parmenides, der dort auch erwähnt wird. Während ich diese Seite mit dem Titel "Vom Schein zum Sein" überschrieben habe, geht es Eckhart "um das Sein an sich". Die Gliederung, Ausführung und Tendenz seiner Texte in (II/12) ist durchaus mit denen hier vergleichbar.
11Während alle bisherigen Verse Anleitungen zum richtigen Vernunftgebrauch waren - auch hier schon, wie bei der Vergewisserung des Seins, Descartes Discours de la méthode vorwegnehmend, zeigen die nun folgenden des "Doxateils" Parmenides als scharfsichtigen Naturforscher.
12Der Eros gehört zum universalen Prinzip der Mischung von polar Geordnetem, wobei aus qualitativ Verschiedenen immer wieder qualitativ Neues entsteht, was durch die moderne Genetik, Atomistik und Chemie glänzend bestätigt wird. Dieses immanente schöpferische Prinzip widerspricht dem Antagonismus und überwindet ihn.
13Eine Inschrift des 1. Jh.s besagt: "Parmenides, des Pyres Sohn, aus dem Geschlecht der Uliaden [einem Geschlecht von Medizinern], Naturphilosoph." Verschiedene Bemerkungen zeigen für mich ein durch ausgiebige Beobachtung gewonnenes Insiderwissen von Medizinern, z.B. das Wissen um Mißgeburten und um die Existenz von Eierstöcken.
14Eine Strophe, die - wie die erste Strophe von II. - für mich zu den (m.E. vernachlässigten, weil zu wenig verstandenen) Schlüsselszenen gehört. Auch menschliches Wissen ist eine Mischung, nämlich aus objektiven und subjektiven Elementen (Gliedern), wobei die subjektiven Elemente des Wahrnehmens und Denkens die objektiven Daten an die menschliche Verständnisfähigkeit adaptieren. Wie schon im Proömium, zeigt das Gedicht hier erneut seine selbsterklärende Kraft. Es ist also durch und durch "homogen" und "konsistent", wie man heute sagt.
14agriech. Göttin des Schicksals. s. auch das Gedicht ANANKE auf (I/A4)
15Was in der am Lebendigen geübten Denkweise des Scheins Entstehen und Vergehen ist, ist auf der Ebene des Seins nur Mischung und Entmischung der Glieder, das universal schöpferische Prinzip, das ein immanentes ist. Dem entspricht in der heutigen Physik der Erhaltungssatz der Energie, der besagt, daß die Summe der Energie in allem Wandel dieselbe bleibt. Indem Parmenides sich durch "keines Menschen Meinung je beirren" ließ, sondern nur seiner wohlbegründeten Überzeugung folgte, daß das Seiende in seiner Summe nicht entstehen und vergehen sondern sich immer nur mischen kann, wobei nach außen hin neue Qualitäten entstehen, weil Sein (ohne Wenn und Aber) ist, blieb sein Denken auf der Spur der Wahrheit, wodurch er die Grund legenden Verhältnisse dieser Welt und unsere Stellung in ihr in zeitloser Gültigkeit sah.


Konkordanz Diels/Kranz - Hille
der durch Leerzeilen getrennten Verse eines Untertitels, soweit verschieden:
I. Das rechte Bedenken: 28B1 (alle);
II. Zwei Wege des Denkens: 28B6, 28B2;
III. Der einzig gangbare Weg: 28B8 (alle);
IV. Der Grund-Satz: 28B6, 28B7;
V. Denken und Sein: 28B8, 28B4, 28B8;
VI. Das antagonistische Denken: 28B8, 28B9, 28B8;
VII. Die Weltformel: 28B13, 28B18, 28B12, 28B16;
VIII. Der Kosmos: 28B10, 28B11, div. Quellen, 28B8;
IX. Schlußbemerkung der Göttin: 28B19;
X. Der Kommentar des Plutarch: 28A34, 28B10.

Mein Vorgehen
Wegen ihres prägnanteren Ausdrucks habe ich nach Möglichkeit die Übersetzung von Kurt Riezler einschließlich der Korrekturen von Hans-Georg Gadamer verwendet, während dem Proömium hauptsächlich die Übersetzung von Jaap Mansfeld zugrundeliegt, der mich auch bei einigen Begriffen mehr überzeugt hat. Bei den kurzen Schlüsselszenen, die bei beiden Autoren mehr oder weniger unklar geblieben sind, habe ich von dem verwendeten Vokabular soviel wie möglich benutzt, den sinnvollsten bzw. knappsten Ausdruck als Kriterium nehmend. Um die - wahrscheinlich durch die fragmentarische Überlieferung - überproportional vertretenen Aussagen zum Charakter des Seins zu reduzieren, habe ich zur Herstellung eines Gleichgewichts die Verse 25 bis 34 und 46 bis 49 entfallen lasen, da sie nur Wiederholung, Variation oder Folgerung des zuvor bereits Gesagten und von selbst Verständlichen sind. Für die Klartextfassung des Proömiums mit neuen, Sinn stiftenden Begriffen und Deutungen, für Titel und Untertitel I. - IX., Reihenfolge der Verse von II. - IX. und deren Verslänge trage ich allein die Verantwortung. Etwas mehr Unterstützung von Seiten der Fachleute hätte ich mir schon gewünscht. Doch die über die Jahrhunderte gehenden Deutungsversuche der Parmenideischen Verse gaben mir zu erkennen, daß wegen der Verschlüsselung des Proömiums die philologischen Probleme marginal gegenüber den philosophischen sind, weshalb ich mich durch allzuviele Bedenken von Philologen nicht zurückhalten lassen wollte, meine Version vorzustellen. Schließlich handelt es sich um den Text eines Philosophen, dem letztlich nur ein mit der Problematik vertrauter Philosoph gerecht werden kann. Quellenangaben und persönliche Hinweise sind auf der vorangegangenen Datei (II/5a) "Parmenides im Klartext" vermerkt.


Anmerkung 1
Ich denke, wenn ich heute, nach ca. 1900 Jahren, obgleich mir nur Fragmente des Parmenideischen Lehrgedichts zur Verfügung stehen, dem Kommentar des Plutarch (45-120) uneingeschränkt zustimmen kann, dann kann mein zwangloses Verständnis der Verse so falsch nicht sein.
München, den 17. Januar 1997

Anmerkung 2
Der rationale Aufbau des Lehrgedichts ist folgender:
Parmenides setzt auf die durch rechtes Bedenken gewonnene, logisch in jeder Hinsicht abgeklärte Vernunfteinsicht, daß Seiendes ist, immer schon war und immer sein wird, Nichtseiendes jedoch nicht ist, als Kriterium, ausgesprochen durch die Göttin. Die Gründe für diese Einsicht werden von ihr ausführlichst dargelegt.
     An diesem unbezweifelbaren Kriterium, genannt "der wohlgerundeten Wahrheit nie erzitterndes Herz" (Plutarch: den erkennbaren Teil der Wirklichkeit), werden die Meinungen der Sterblichen, die alles nach ihrer eigenen Endlichkeit beurteilen und daher glauben, daß Seiendes in Nichtseiendes übergehen kann und umgekehrt, gemessen. Da das Seiende unteilbar ist, wird auch das durch antagonistische Denkweise erzeugte dualistische Weltbild wegen Scheinhaftigkeit abgelehnt. So schützt der Gebrauch des wohlbegründeten Kriteriums davor, durch menschliche Meinung "je beirrt" und übertrumpft zu werden.
     Da dem Kriterium zufolge Seiendes weder entstehen noch vergehen kann, können sich seine zumeist polar geordneten Glieder nur "mischen" oder entmischen, wodurch nach außen hin immer wieder qualitativ Neues in Erscheinung tritt, was uns als Emergenz erscheint. Dieses Prinzip der Mischung ergibt eine alle Bereiche des Seienden umfassende, mit dem Fortschritt der Naturwissenschaften sich immer mehr bestätigende Weltformel für alles, die von Parmenides anhand der biologischen Zeugung dargestellt wird. Ihre immer besser erkenntlich werdende zeitlose Gültigkeit zeigt, was es heißt, der Vernunft zu vertrauen. Aber die Vernunft weiß auch, daß jede darüber hinaus gehende Erklärung der transzendenten Realität eine Adaption an menschliches, sich wandelndes Verständnis ist und deshalb notwendig ihrem "meinbaren Teil" (Plutarch) verhaftet bleibt.
     Der rationale Aufbau des Lehrgedichts, der es erlaubt, die Reihenfolge seiner Verse zu rekonstruieren, ist Vorbild jeglicher Wissenschaft, die als "vernünftig" gelten will: beginnend mit einem selbst-verständlichen Prinzip, das als Meßlatte dient, werden Fakten und Meinungen beurteilt, wie das die Rechtsprechung in bewährter Weise schon seit Jahrtausenden tut. Zugleich wird undogmatisch erprobt, wie weit dieses Kriterium hilfreich ist. Eine rational durchsichtig aufgebaute Wissenschaft oder wissenschaftliche Theorie ist weder auf die gleiche Meinung von möglichst vielen (Rorty) oder aus dem Bauch kommende Instinkte (Einstein), noch auf den Schönheitssinn (Weinberg) von Forschern angewiesen. Sie weiß von Anfang an in allen Phasen, warum sie etwas weiß, und ist daher weder ein "Vermutungswissen" (Popper), noch erfordert sie jene glaubenswilligen Anhänger, die sich von ungereimten Ideen magisch angezogen fühlen (Putnam).
München, den 30. August/20. November 1997

Anmerkung 3
Im Lichte seiner Rationalität ist die Botschaft des Parmenides so tief wie einfach:
Wir Menschen haben kein objektives Wissen, sondern lassen uns von Meinungen leiten, deren Prämissen wir nicht kennen. Nur das uns von der höchsten Vernunft gegebene unbezweifelbare Kriterium, daß es zwischen Seiendem und Nichtseienden keinerlei Übergang gibt (sondern daß das Seiende durch Mischung seiner Glieder sich nach außen hin immer wieder nur anderes darstellt,) ermöglicht uns, sichere Aussagen "weitab vom üblichen Pfad der Menschen" zu machen, die eigentlich nur den Göttern zukommen, weshalb Parmenides die Aussagen seines Lehrgedichts einer namenlosen Göttin, der höchsten Weisheit, die durch keinen Namen relativierbar ist, in den Mund legt. Sie spricht dazu in Versen - denn diese sind die Sprache der Götter.
München den 13. Dezember 1999


Endanmerkung
Ein Problem, nicht nur für Philologen
Wo Parmenides im Proömium seinen Weg zur Erkenntnis schildert, drückt er sich in Bildern aus, bringt jedoch die Dike ins Spiel, die den Schlüssel besitzt. Im Wahrheitsteil spricht die Göttin von einem Sein, das drei Bedeutungen hat. Und wo sie scheinbar verständlich spricht, kann es gerade sein, daß es nicht um den gewöhnlichen Sinn der Rede geht. Fairerweise warnt sie aber vor ihrer Worte "trügendes Gefüge", muß sie doch Zeitloses in der Sprache der Sterblichen beschreiben, um sich mitteilen zu können. Bei allem Wunsch, über eine möglichst genaue Übersetzung des altgriechischen Textes zu verfügen und mich an ihn zu halten, ist die Allegorie der Eröffnung für mich schon die Aufforderung, über die Beachtung der Worte hinaus unvoreingenommen in das Gesagte als Ganzes hineinzuhören und es in seinem Sinn zu erfassen. Daß man gern "einzelnes aus seinem Zusammenhang löst und es dann wörtlich, und d.h. falsch, interpretiert und sich statt auf die Sache auf den Buchstaben beruft" - ist ein Problem, nicht nur für Philologen, auf das schon Plutarch hinwies.
     Die Schwierigkeit des Erkennens der wahren Verhältnisse hat mit der Transzendenz der Realität und der Realität der Transzendenz zu tun, die all unser selektierendes und interpretierendes Wahrnehmen und Denken übersteigt. Das ist daher die eigentliche Kunde und Warnung des Eleaten, die er mit seinem Lehrgedicht weitergeben wollte: alle geistigen "Wahrheiten" sind Wahrheiten aus zweiter Hand und Wahrheiten für uns - meine ultimative doxa-Interpretation! - die stets des rechten Bedenkens bedürfen, sollen sie respektabel sein. Sie sind ebenso sekundär wie die vom kognitiven Apparat erzeugten Sinneseindrücke, weshalb diese schon lange sekundäre bzw. subjektive Qualitäten genannt werden. Ich denke, daß ganz gleich welche Verbesserungen meiner Interpretation und der von mir benutzten Übersetzungen im Einzelnen je noch vorgeschlagen werden, man in Zukunft das Lehrgedicht des Parmenides nicht guten Gewissens unterhalb seines hier aufgezeigten Niveaus interpretieren kann. "In dubio pro reo" heißt für mich: Ein Autor, der sich um Vernunft und Weisheit bemüht hat, sich jedoch nicht mehr rechtfertigen kann, hat Anspruch auf die Interpretation, die für uns die vernünftigste und weiseste ist.

© HILLE 1997-2016
Anmerkungen an den Schluß gesetzt sowie einige Ergänzungen der Kommentare Sept./Okt./Nov. 2004; Fußnote 10a am 7./10. Juni 2007 eingefügt, Nov. 2014 ergänzt mit Hinweis auf die Eckhart-Texte, "Mein Vorgehen" ergänzt; 22.02.2016 Vorbemerkung mit Links auf die weiteren Parmenidestexte; 04.03.2016 Vorbemerkung erweitert und neu formuliert

Gewissermaßen eine Zusammenfassung ist auf ZEIT UND SEIN das Lehrgedicht [5] vom Januar 2002:
"Intuition will bedacht sein. Parmenides weist den Weg"

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