Die Johanna Fischer Seite
Mehr sein als scheinen

aus meiner Personalakte - Teil I:  Fräulein Fischers Statements


Durch Kommentare und Danksagung zugleich ein Nachruf


die Akte
grünlich: die Akte

Neben der Gedichtsammlung von Uroma Hulda und Onkel Arnold, s. die Familienanthologie auf (L1) und (L2), die einige der Gedichte wiedergibt, ist noch eine dritte Sammlung auf mich gekommen. Zu meinem 21. Geburtstag wurde mir von Fräulein Fischer meine von ihr angelegte "Personalakte" übergeben, die später noch zahlreiche ebenso mit der Maschine auf kleinen gelblichen Zetteln geschriebene Ergänzungen erfuhr, u.a. ihre Briefe an mich. Ich nannte sie "Fräulein Fischer", weil meine Eltern sie so nannten, während meine fast 10 Jahr jüngere Schwester sie als "Tante Fischer" ansprach. Sie war uns Kindern eben so etwas wie eine gute Tante, die uns in schwerer Zeit half und förderte. Und sie wäre auch tatsächlich gern eine echte Tante von uns geworden. Sie hatte sich in den zwanziger Jahren in meinen Onkel Arnold unsterblich verliebt, als er als Sozialdemokrat seine Visionen von einer sozial gerechten Zukunft öffentlich vortrug. Ob beide eine Zeitlang ein echtes Liebesverhältnis miteinander hatten ist mir nicht bekannt, auch wenn Onkel Arnold so leicht nichts "anbrennen" ließ. Jedenfalls war Fräulein Fischer unendlich enttäuscht, als Onkel Arnold nach der Scheidung von seiner ersten Frau sich nicht ihr zuwandte, sondern Kontakt mit für ihn attraktiveren Frauen suchte. Bei allem sozialen Engagement war er eben doch auch ein Liebhaber schöner Frauen und schöner Dinge, er war halt auch nur ein Mann, während Fräulein Fischer, der Ethik über Ästhetik ging, was sie immer wieder betonte, keinen Wert auf Äußerlichkeiten legte. Für sie zählte nur das Sein und nicht der Schein. Der Konflikt war also vorprogrammiert.

Obgleich Fräulein Fischer nach dem Kriege wieder in Werdau/Sachsen lebte und ich ab 1950 in München, wo mich nach meiner Flucht aus Magdeburg Onkel Arnold und Tante Anni aufgenommen hatten, kam es Anfang der sechziger Jahre trotzdem zu einer Begegnung zwischen Fräulein Fischer und Onkels 2. Frau, meiner Tante Anni. Fräulein Fischer hatte, um das Wohlergehen meiner Familie besorgt, mich in München besucht und wir wollten Sie am Ende des Besuches mit der Straßenbahn zum Zug bringen, als an der vorletzten Station unserer Fahrt (Stachus) Tante Anni in genau der Straßenbahntür zustieg, an der wir wartend anschließend beim Hauptbahnhof aussteigen wollten (ich sehe sie noch heute verwundernd auf mich blicken und etwas erstaunt fragend "Helmut?" sagen). Ich stellte die beiden von mir gleicherweise verehrten Frauen sich gegenseitig vor und versuchte die Verlegenheit zu überbrücken und mich Tante Anni zu erklären, die von meinen weiterbestehenden Kontakten zu Fräulein Fischer nichts wusste. Uns allen aber war hinterher, als wäre das Schicksal um ein versöhnliches Ende des Konflikts um Onkel Arnold bemüht gewesen, der zudem bereits einige Jahre zuvor verstorben war. (s. L2)

Porträt von 1943/44, Maler Bielstein Fräulein Johanna Fischer (1895-1976? - 16.01.76 letzter Brief von ihr, Porträt von 1943/44) in Pegau südl. Leipzig geboren, zog Anfang des Krieges von Werdau/Sachsen nach Posen, wo wir seit 1940 wohnten, da mein Vater, der Zwillingsbruder von Onkel Arnold, von der Wehrmacht aus der Nähe von Berlin dort hinversetzt worden war. Ich kann mich nicht erinnern, sie vorher gekannt zu haben. Weiß auch nicht, ob es Zufall oder Absicht war, dass sie uns nach Posen, heute "Poznan" in Westpolen liegend, früher zu Westpreußen gehörend, folgte. Eher wohl nicht, da sie durch den Kontakt zu uns über Onkel Arnold informiert blieb. Weil meine Eltern mit meiner einsetzenden Pubertät nichts so recht anzufangen wussten, baten sie Fräulein Fischer um Hilfe, die zwar einerseits eine streng moralische Person war, aber andererseits als engagierte Sozialarbeiterin sich ständig mit den Wechselfällen des Lebens auseinandersetzen musste und gelernt hatte, mit ihnen umzugehen, sowohl mit Güte als auch mit Strenge. Eine ihrer Maximen war: "Bei allzugroßer Güte werden selbst die Veilchen frech." Eine andere: "Gutmütigkeit ist ein Teil der Liederlichkeit." Zudem glich ich in Aussehen und Talenten meinem Onkel, so dass ich für sie so etwas wie ein eigenes Kind war, das sie sich immer gewünscht hatte und dass aber die Fehler, die sie bei meinem Onkel sah, nicht wiederholen sollte. So wurde sie zu meiner Mentorin, der es um die Synthese zwischen Gefühl und Verstand ging, wie sie oft betonte. Dazu und zu dem was sie sonst noch bewegte verfasste sie kurz und bündig geschriebene Texte, von mir hier "Statements" genannt, wovon ich die wichtigsten unten wiedergebe. (Ein Bild des hier gezeigten Portraits ist auf (L5B) auf dem Wandregal rechts ganz oben zu sehen.)

Noch ein Wort zum 2. Weltkrieg: Für mich war er erst zu Ende, als am 9. November 1989 in Berlin die Mauer fiel und 17 Millionen Deutsche sich aus ihrer 44-jährigen Gefangenschaft befreiten und alle anderen die neuen Länder besuchen durften. Die Bilder dieses Ereignis bewegen mich bis heute tief und immer wieder. Dieses wirkliche Ende des Krieges war jedoch den beiden Kirchen am Tag der Wiedervereinigung nicht wert, ihre Glocken läuten zu lassen, obwohl besonders die evangelischen Kirchen die Protestierenden zuvor unterstützt hatten. Beides werde ich ihnen nie vergessen und verzeihen. In Polen war es die katholische Kirche mit Johannes Paul II., die den Freiheitswilligen wichtigen Rückhalt gab, wenn auch nicht uneigennützig. Sie wollte nach dem Sturz des kommunistischen Regimes ihre eigene Diktatur errichten, welche die Menschen bis in ihr Intimstes hinein bestimmen sollte. Gerade noch rechtzeitig siegte mit dem Sturz von Lech Walesa auch hier der ungebrochene Freiheitswille des Volkes. (2000 trat der ehemalige Freiheitsheld Walesa erneut zu den Präsidentschaftswahlen an, erhielt jedoch weniger als 1 % der Stimmen! Man hatte begriffen.) Leider ist Polen heute (2020) dabei, gegen den Widerstand Vieler sich der Kirche zu unterwerfen.


Die Statements

Noch im Krieg beschrieb Fräulein Fischer mich in ihrer strengen Sicht, obwohl ich da erst 15 Jahre alt war ("Goecke" = Familie meiner Mutter)


Mich nun direkt ansprechend notierte Fräulein Fischer später:

Verdient hast Du Dir meine Hilfe nicht
und Abzahlung an mich erwarte ich auch nicht von Dir.
Was mich veranlasst Dir zu helfen
Ist die Treue,
die ich trotz aller bitteren Erfahrung
dem Wertvollen in Eurem Blute halten will,
denn es geht zu Grunde
wenn es sich nicht mit Menschen meines Schlags paart.
Es ist schon nötig,
dass Du die Begabung der Hilles
mit der Zuverlässigkeit der Goeckes vereinst.
. . . Und alles Große braucht Zeit.
Deine Verpflichtung liegt in der Zukunft.
Sieh, wo Dir dann Aufgaben wachsen,
die jenseits Deines eigenen Egos liegen.

Später schrieb Fräulein Fischer mahnend nach einer Aktion von mir:

Du warst ein echter Hille:
Ihr wagt Euch,
ohne die volle Tragweite
zu übersehen.
Das ist Eure Stärke und Eure Schwäche.
Ich sah es kommen,
konnte und
wollte Dir dies Erleben nicht rauben.
Doch wünsche ich Dir für die Zukunft:
Zu übersehn und
trotzdem zu wagen!
Doch dazu gehört auch das Wissen:
Kunst muß frei sein von
aller merkantilen Berechnung.

Das Schwert kehrt sich leicht
gegen Dich selber.
Hüte Dich davor!

Was Fräulein Fischer jedoch in den Kriegsjahren und in der Nazidiktatur natürlich noch viel mehr bewegte, war das Schicksal des Volkes. Der Bombenkrieg hatte schon begonnen, die Schlacht um Stalingrad wohl noch im Gange und was in den KZs und im Osten Unverzeihliches geschah konnte man in Posen durchaus ahnen. Wir sahen ja, wie man mit den Polen umging und hörten von Zügen, die in Richtung Auschwitz rollten. Und das ganze Unrecht musste ja einmal auf uns zurückschlagen.

Angesichts dieser entsetzlichen
allgemeinen biologischen Tragödie
fragt man sich nun aber doch:
Haben alle eigenen Probleme
überhaupt noch einen Sinn?
Ist es nicht zwecklos überhaupt noch
um eine Sinngebung des eigenen Daseins zu ringen?
Als vielmehr restlos aufzugehn
Und unterzugehn in der Tragödie des Volkes?
     25.1.43

Man quält bis zum Tode
Und stempelt zur Heiligen -
Ist das nun menschlich?
Allzu menschlich.

Eis und Schnee
Und
Schmerz und Hohn
Und dennoch
Glut.
Weißglut!

Zurückgekehrt in ihre alte sächsische Heimat nach Werdau schrieb sie:

Mit abgeschirrten Willen
Geh ich singend durch die Straßen.
Voll jener Heiterkeit,
die man mir einmal als Leichtfertigkeit auslegte -
voll jener Hingabe,
die man einmal als infantil ansah -
Nun schau ich hinüber
zu allem leichtfertig gebliebenen,
sie jammern mich in all ihrer Not.
Nun schau ich hinüber
zu allen meinen Kindern.
Und verstrahle Sonne und Ruhe
soviel es nur geht.
      29.3.45

Neben der mentalen Betreuung zahlreicher Schützlinge hatte Fräulein Fischer als Sozialarbeiterin sich immer wieder verwaister oder schwer erziehbarer Mädchen angenommen und sie aufgezogen, weshalb sie zurecht von "meinen Kindern" sprechen durfte. Eines dieser "Kinder" hat ihr "als Zeichen alter und immer neuer Freundschaft" zum Weihnachtsfest 1951 dass dieser Sammlung am Schluß beiliegende Gedicht "Der Baum" gewidmet. - Ihr soziales Engagement ging bis an die Grenzen ihrer Kräfte, gab ihr aber andererseits auch Kraft, um der anderen willen in schweren Zeiten durchzuhalten. So heißt es in einem weiteren Text:

. . .
ich der modernste Mensch.
Ich  s e h e  m i c h
und bin doch voller Heiterkeit.
Und wo die herkommt?
Wohl aus jener neuen Religiosität,
jenseits von allen Dogma.
Die tiefsten Wahrheiten aller Religionen
bestehen auch heute noch:
Entsühnt kann die tiefste Tragik der Menschheit,
die immer wieder naturnotwendige Schuld
nur dadurch werden,
dass es immer wieder Menschen gibt,
die sie freiwillig,
unverbittert
- tragen.

Das beste ist,
man macht sich frei
von allen vermeintlichen Rechtsansprüchen
auf jeglichem Gebiet.
Verjüngt und unbelastet
geht man dahin seine Tage.

Kein Wort zuviel,
und hinter jedem Wort steht die Tat!
Wie das erfreut.
Das sind Männer,
wie sie sein sollen.
Mögen sie herkommen,
wo immer sie wollen.

Wohl in erster Linie an mich gerichtet heißt es in zwei weiteren Papieren:

Ein neuer Stil kann nur
aus neu erlebter Wahrheit wachsen.
Man kann ihn nicht erzwingen,
sonst wird's Kitsch.
Ich halte das Bekenntnis,
das einfache ungekünstelte Bekenntnis
als das dringendste was not tut.
Da aber wirds bald Tote geben.
      28.2.47


      R e g e n e r a t i o n

Es muss eine Erneuerung vom Geist her kommen
voll stärkstem Willen zu eigener Verantwortung
mit der Tat,
voll Ernst und Einsatzwillen zur Sauberkeit,
voll Verzicht auf persönliche Vorteile,
voll Willen zum Helfen mit der Tat
ohne Phrase, Schönrederei und Überheblichkeit
soll Ethik über Ästhetik gehen.
Jenseits von allem Dogma,
zum Willen ans Gute schlechthin,
ohne Angriffslust auf derzeitige Machtssysteme
soll bewiesen werden,
dass eine ganz tiefe Kraft nötig ist,
wenn Großes wachsen soll.
                                          J. F.

Dieses Gedicht habe ich Joachim Gauck meinem Glückwunsch zu seiner Wahl als Bundespräsident beigelegt (s. hier) und später mit meiner Bitte, sich zur Wiederwahl zur Verfügung zu stellen, es samt meinem ersten Brief nochmals zugeschickt. Er war mir wie eine Verkörperung von Fräulein Fischers Anliegen und er ist es mir heute noch.


Ja, so dachte und so lebte sie. Eine stille Heldin des Alltags, voller Sorge um das Wohl der Menschen, vor allen um jene, die sich selbst nicht mehr helfen konnten. Aber auch mit der Kraft, darüber zu stehen. Sie hat es verdient, dass ich hier ihrer anhand bemerkenswerter Zeitdokumente gedenke, die in ihrer kurzen und bündigen Schreibweise mir später Vorbild wichtiger Texte wurden, wie man sie auf meinen beiden Homepages findet.

Liebe Johanna, Du hast mich in schwerer Zeit mit Rat und Tat geleitet und mir immer wieder eindringlich gesagt, was im Leben wesentlich ist. Ich hoffe, ich habe deine Mahnungen begriffen und befolgt. Nachdem uns beiden klar geworden war, dass ich mit dem sich entwickelnden Sowjetregime in der Ostzone immer Konflikte haben werde, warst Du es auch, die es mir ermöglichte 1950 über den Todesstreifen der Zonengrenze hinweg irgendwo in Thüringen, von ihr mit 20 D-Mark für die Bahnfahrt ausgestattet, um von Ost (Magdeburg) nach West (München) zu wechseln, das mir dann dank Onkel Arnold, Tante Anni und meiner Frau zur zweiten Heimat wurde, in der ich genau 50 Jahre lang gern lebte, bevor es mich im Jahr 2000 der Liebe wegen nach Heilbronn zog. Ich danke Dir für alles und werde Dich, dein Bild und deine Worte bis an das Ende meiner Tage weiterhin in meinem Herzen behalten. Und mögen über mein Ableben hinaus deine Worte an dieser Stelle auch für andere Wegweiser durchs Leben sein.

Heilbronn, im Januar 2008
März 2012 oben 2. Absatz neu; April 2012 Absatz "Noch ein Wort zum 2. Weltkrieg" neu; Januar 2021 Seite einer besonderen Person gewidmt - alle gewidmeten Seiten

Dein Helmut


Zu meiner Personalakte gehörende Texte weiterer Autoren wurden von Februar bis April 2008 in den hier anschließend folgenden 3 Dateien veröffentlicht.

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